Spirituelle Duelle

Schwerelose Schlagkraft: Ang Lees „Tiger and Dragon“ zeigt tatsächlich so was wie das Tao des Martial-Arts-Films

Vor zwei Jahren hieß das Kino der Zukunft „Matrix“. Zwar kämpften die Figuren noch Karate, doch mit seiner Technik und seinem ideologischen Überbau arbeitete der Film der Wachowski-Brothers an der Abschaffung des Körpers. In ihrem Science-Fiction verwandelte sich der Heldenkörper in gebündelte Datenflüsse, die sich in eine simulierte Wirklichkeit einprogrammieren ließen, während der Schauspielerkörper zu einem von zig Kameras abgefilmten Dummy wurde, den sich die Visual-Effects-Designer vornahmen. So konnte Keanu Reeves mitten im Sprung sekundenlang in der Luft gefrieren, während ihn die Kamera(s) wie eine Statue umkreisten. Als High-Tech-Version von „Alice im Wunderland“ prophezeite „Matrix“ auch das Ende der Schwerkraft im Kino.

In Ang Lees „Tiger and Dragon“ hat die Schwerkraft nun wieder mit Triumph ihre Fahnen gehisst, denn der Taiwanese inszeniert den alten Traum von ihrer Überwindung. An unsichtbaren meterlangen Seilen fliegen seine Helden durch die Luft, rennen Häuserwände hoch und gleiten übers Wasser. In „Matrix“ befanden sich die Figuren aus Bytes und Pixeln von vornherein in einem anderen Aggregatzustand, konnten sonstwohin geschossen werden, ohne dass man sich sonderlich um sie gesorgt hätte. „Tiger and Dragon“ feiert den mit Affekten voll gestopften Helden in seiner ganzen sexy Körperlichkeit. Und diesen Körper bringt Ang Lee genauso glorios und glamourös zum Abheben wie einst die großen Musicals.

In seinem Film paradiert alles, was man sich unter einer fernöstlichen Legende vorstellt: ein grünes Schwert mit geheimnisvollen Kräften, maskierte Kämpfer, die es stehlen wollen, böse Hexen, weise Meister, eine mythische Kriegerkaste namens Wu Xiao Lu und ein Paar, das sich so sehr liebt, dass es sich seine Liebe kaum mehr gestehen kann. Ex-Bond-Girl und Stunt-Queen Michelle Yeoh bildet zusammen mit Hongkongs Action-Ikone Chow Yun Fat sozusagen den meditativen Kern einer Geschichte, in der taoistische Philosophie und esoterisch angehauchte „Finde zu dir selbst“-Parolen aufs Wunderbarste ineinander übergehen. In Ang Lees Kindheits- und Kinotraum treffen sich die Geister von Ginger Rogers, Gene Kelly und Bruce Lee, verbindet sich die Schwerelosigkeit der klassischen Musicals mit der Schlagkraft des asiatischen Stuntkinos, und der Pas de deux spielt Zweikampf. Trotz aller Märchenhaftigkeit bleibt Lee seinen alten Themen treu. Wieder geht es um Generationenkonflikte, um das ewige Gerangel der Adoleszenz, um Menschen, die sich zu ihren Gefühlen durchringen und irgendwie den Mut finden, dafür zu kämpfen.

Der Kampf ist in „Tiger and Dragon“ die Fortsetzung des Dialoges mit anderen Mitteln. Lees KriegerInnen geht es dabei nicht um den schnöden Sieg, sondern darum, den anderen zu überzeugen, ob von der Liebe, vom rechten Weg oder von der Notwendigkeit der Selbstüberwindung. Da alle Duelle hier sozusagen auf spirituellem Terrain stattfinden, sind den Helden keinerlei physische Grenzen gesetzt. In einer der abgedrehtesten Szenen kämpfen der Meisterkrieger Li Mu Bai (Chow Yun Fat) und die junge ungestüme Jen (Zhang Ziyi) in den Wipfeln eines Bambuswaldes. Wenn die Körper mit den Ästen nach oben federn, ins Grün der Blätter übergehen und Bewegung zum Lyrismus wird, dann entsteht auf der Leinwand tatsächlich so etwas wie das Tao des Martial-Arts-Films.

Ganz nebenbei überführt Ang Lee auf diesem Weg ein etwas angestaubtes Genre in die Filmmoderne. Seine Helden springen höher und weiter, schweben schwereloser und schwingen die Schwerter eleganter als je ein Mensch in einem Martial-Arts-Film. Choreografiert hat die Kampfszenen in „Tiger and Dragon“ übrigens Hongkongs Meister Yuen-Woo Ping, der interessanterweise auch die Kämpfe in „Matrix“ eingerichtet hat. Es mag am Geist der fernöstlichen Philosophie, am glücksentschlossenen kleinen Jungen in Ang Lee oder an der Binsenweisheit liegen, dass der Weg zur Schwerelosigkeit nur über die Schwerkraft führen kann: Den gefrorenen Keanu Reeves und den schwebenden Chow Yun Fat trennt das unendlich weite Feld zwischen Technizismus und Tao.

KATJA NICODEMUS

„Tiger and Dragon“. Regie: Ang Lee. Mit Chow Yun Fat, Michelle Yeoh u. a. China/USA, 1999, 120 Min.