„Thierse hat Recht“

Die Union schließt sich Thierses Ost-Thesen gerne an. Die rot-grüne Koalition habe die neuen Länder vernachlässigt

BERLIN taz ■ Mit seiner These hatte Wolfgang Thierse (SPD) einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. „Eine ehrliche Bestandsaufnahme muss festhalten, dass die wirtschaftliche und soziale Lage in Ostdeutschland auf der Kippe steht“, hatte der Bundestagspräsident befunden und war dafür in den eigenen Reihen heftig kritisiert worden. Thierse wollte mit seinen „bewusst überzogenen“ Äußerungen eine Diskussion über die Lage in den neuen Bundesländern auslösen. Dies ist ihm ohne Zweifel gelungen. Am Dienstag hatte Thierse dann auch noch aus einem internen Papier der SPD-Fraktion zitiert, in dem die wachsende Kluft zwischen Ost und West bestätigt wird – ohne sich zuvor mit den Autoren, den stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden Joachim Poß und Sabine Kaspereit, zu besprechen. Als besonders merkwürdig empfinde sie, so Kaspereit in der Süddeutschen Zeitung, dass sie nicht in die Erarbeitung der Thierse-Thesen eingebunden worden sei. Dessen Einschätzung werde „in dieser Zuspitzung“ nämlich nicht von ihr geteilt.

Nur zu gerne sprang dagegen die CDU auf den Zug auf. Die Abwanderung aus Ostdeutschland sei vor allem der Regierung Schröder anzulasten, sagte der sachsen-anhaltinische Bundestagsabgeordnete Hartmut Büttner gestern in Berlin. Rot-Grün vernachlässige den Osten wirtschaftlich. Die Koalition habe es versäumt, in den neuen Ländern eine Infrastruktur aufzubauen. Daher zögerten viele Unternehmen, sich in Ostdeutschland anzusiedeln. Als Beispiele nannte Büttner das Scheitern des Baus der Transrapidstrecke durch Mecklenburg-Vorpommern oder die Ausklammerung der neuen Länder aus dem Anti-Stau-Programm.

Die Folge: Immer mehr Menschen suchten im alten Bundesgebiet nach Jobs. Die Abwanderung junger leistungsfähiger Menschen sei inzwischen zu einer existenziellen Belastung für die neuen Bundesländer geworden. In jüngster Zeit habe die Bevölkerungsdichte wieder abgenommen, nachdem die Zuzüge in die neuen Länder die Abwanderungen 1997 noch nahezu ausgeglichen hatten. „Ja, wir stehen auf der Kippe“, so Büttner.

Doch der CDU-Abgeordnete übte auch scharfe Kritik an westdeutschen Firmen. Es sei eine Schande, dass Städte im Westen gezielt Azubis abwerben würden. Viele von ihnen würden nach ihrer Ausbildung nicht mehr in den Osten zurückkehren.

Doch echte Lösungen hatte der Abgeordnete auch nicht anzubieten. Er rief junge Menschen auf, im Osten zu bleiben, auch wenn es zuweilen dauere, bis sie eine Lehrstelle oder einen Job finden. CLAUDE KOHNEN