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Sei dein eigener Planet

Die Körper der Männer des Geistes haben Hunger und tun weh. Sich selbst und anderen. Tony Baillargeats Debüt „Ausgemustert“ zeigt die traurigsten und metaphysischsten Gangster seit langem

von ANDREAS BUSCHE

Die Authentizität des Idioten gewinnt an poetischer Dimension, je mehr er sich von dem Bild, das man sich gemeinhin von ihm macht, entfernt. „Du hast den Körper von Herkules, aber das Gesicht eines Kindes“, sagt die Kunststudentin Isabelle zu Eric Perrat, „eine Karikatur von Naivität, gepaart mit brutaler Kraft.“ Er erzählt ihr von der Erhabenheit und den Vögeln. Was sie sucht (und meint gefunden zu haben) ist Echtheit, eine vorgebliche Echtheit oder auch das Echte im Falschen. Eine Authentizität, die erst in den Widersprüchen lebendig wird. Und die sind in Tony Baillargeats Debüt „Ausgemustert“ meistens körperlicher Natur. Denn die Erkenntnis der Widersprüche tritt erst im Augenblick des Todes ein. Das Sterben hat für die Figuren, allesamt Existenzialisten und Symbolisten, schon vor langer Zeit begonnen, und es liegt im Fatalismus ihrer Profession begründet, dass sie schließlich auch die mit hinunterzuziehen, deren Leben gerade erst am Aufblühen ist.

Die Deklassierten, so der Originaltitel des Films, bewegen sich in einer Welt der Institutionen und ihnen wesensfremder Konventionen. Ihre Bewältigung dieses Dilemmas ist, selbst zur Institution zu werden wie der Obergangster Le Normand oder sich in Hass abzukanzeln. Den philosophischen Diskussionszirkel misanthroper Studenten sprengen Eric, sein Bruder Nico und Sergio in ihrem Hunger nach transzendenter Erfahrung und körperlicher Befriedigung: „Wenn man Menschen trifft, um über Glaube und Gott zu reden, endet’s immer in einer Orgie.“ Ihre praktizierte Einfachheit hat etwas Sektiererisches, denn die Worte und Bilder sind zu einem Geheimcode geworden, weil Menschen wie Isabelle ihre Bedeutung verlernt haben. „Ausgemustert“ zeigt die traurigsten Gangster seit langer Zeit. Es ist die Einsamkeit, die sie zusammentreibt, und ein Todestrieb, der ihr Handeln bestimmt.

Le Normand regiert sein kleines Reich mit exzessiver Brutalität und wartet doch nur auf den Moment der Rückkehr in seine Heimatstadt Le Havre, dort , wo für ihn alles begann. Er ist ein Mann des Geistes. Sein Körper schmerzt. Auftragskiller Franck flüchtet sich in Sadismus, und mit jedem Knacken der Knochen und Schmatzen der klaffenden Wunden erhält seine Seele einen weiteren Haarriss. Aus Nico dagegen, seinem Partner, schreien, wie Franck meint, die Widersprüche zwischen der Welt, in der er lebt, und seiner eigentlichen Bestimmung nur so heraus.

Es ist – auch hier – der Widerspruch zwischen Körper und Geist. Nico lebt in einer Welt der starken, Kräfte zehrenden Symbole, erkennt aber ihre Poesie nicht. Es ist der fatalistischen Logik immanent, das all die Kartenhäuser, an denen er, Eric und Sergio so lange und mühevoll gearbeitet haben, zusammenbrechen, als er zum ersten Mal ansetzt, die Kluft der Widersprüche zu überwinden. Er verliebt sich in Isabelle, die Freundin seines Bruders. Und während Nico ihr – und in einer elliptischen Parallelmontage Eric dem „Normannen“ – ein Lied des Schlagersängers Johnny Hallyday vorsingt, zieht sich die Schlinge um ihre Hälse immer enger zusammen.

„Der Mensch ist sich selbst ein Planet“, sagt Le Normand während einer besonders unerbittlichen Exekution. Um diesen metaphysischen Zustand zu erreichen, in dem der Schmerz der Schläge, die seinen Körper bearbeiten, die Gewaltigkeit einer Naturkatastrophe erlangt hat, ist es für ihn noch ein langer Weg. Eine körperliche Reise, die schließlich zu einer geistigen Erlösung führt.

„Ausgemustert“. Regie: Tony Baillargeat. Mit Philippe Pillon, Tony Baillargeat, Enrico Mattarocia. BRD/F 1999, 117 Min., läuft bis 24. 1. im Movimiento, Kottbusser Damm 22, Kreuzberg

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