modernes antiquariat
: Bodo Morshäusers „Blende“ von 1985

Die Herrschaft der Schnellgeher

„Um mich und meine Stadt in einen gut tuenden Abstand zu versetzen, von dort aus betrachten und empfinden, also insgesamt doch lieben zu können, muss ich stets Berlin verlassen und wiederkommen“ reflektiert Bodo Morshäuser 1998 in seiner „Liebeserklärung an eine hässliche Stadt“.

Berliner Gefühle – signifikant und zeitlos. Dabei scheint es heute nur noch gefährlicher als früher, Berlin für längere Zeit zu verlassen. Schließlich schwelgt die Stadt nunmehr schon seit einigen Jahren in einer offiziell zelebrierten, überdrehten Aufbruchsstimmung. Wenige Monate Großstadtabstinenz genügen, um sich in der eigenen Stadt völlig fremd zu fühlen.

Ganze drei Jahre sind vergangen, bis der junge Mann in Bodo Morshäusers Erzählung „Blende“, die der damals 32-jährige Autor 1985 schrieb, in seine Heimatstadt Berlin zurückkehrt. Ein Gefühl im Bauch, als lande er auf einem fremden Planeten. Der Ich-Erzähler, ein ehemaliger Radiomoderator, der wegen seiner gut gemeinten Die-Hörgewohnheiten-verändern!-Ansprüche seinen Job verloren hatte, weiß bereits vor seiner Ankunft, dass eine langsame Heimkehr unmöglich sein wird.

Ein Rückkehrer, kein Heimkehrer (wie Morshäuser selbst). Einziger Grund: Er muss seinem Kontostand mal wieder auf die Beine helfen. Zu diesem Zweck führt er einen Koffer Haschisch mit sich, den er in der Stadt teuer verkaufen will. Das Berlin des Rückkehrers hat sich gravierend verändert: Gleichwohl immer noch Schutzgebiet alter, versponnener Mythen von einer Frontstadt mit hart-intensivem Leben, Westberliner Protestritualen, abwegiger Kreativität und Kodderschnauze, ist es doch in eine vage Orwell-Zukunft verschoben, die an einigen Stellen auch für unsere heutige Zeit so unpassend nicht scheint.

Der Stadtbesichtiger wird gejagt von Schnellgehern, die das Tempo auf den Bürgersteigen bestimmen und rasend werden, „wenn so ein Schlendrian hier den Schritt nicht kennt“. Lakonisch beobachtet er die Zwangsgemeinschaften von Warteschlangen, Bus- oder Barinsassen. Immer und überall sind genauso viele Sicherheitsdienstkräfte zur Stelle wie Pseudokämpfer diverser Banden („Kinderkämpfer“) und Simulanten. Sie alle befehden mit-, gegen- und untereinander alles und damit letztlich nichts. Leerlauf. Das war’s.

Leider auch schon mit der Story. Schnell ist das Geschäft erfolgreich abgewickelt, der junge Mann in Gedanken längst wieder in Italien, in den Armen seiner Geliebten Rita, an die die Erzählung gerichtet ist. Aus heutiger Sicht wirken die melancholischen Beschreibungen des scharfsinnigen Flaneurs immer dann ein wenig grotesk, wenn er in die neue alte Szene abtaucht, in obskure Tiefgaragen oder Lokale, die „Fack“ oder „Gebiet“ heißen.

Viel überzeugender, da unverkrampfter, gelingt es Morshäuser, ohne großen psychologischen Aufwand, die konfusen Seelenregungen der Hauptfiguren detailliert vor dem Leser auszubreiten. Scharf umrissene Porträts von bizarren Großstadtkreaturen entstehen. Und bleiben.

Was aber noch mehr bleibt, ist die Gewissheit, dass Berlin eben – nicht nur im Buch – eine Stadt voller Menschen ist, „die nicht zugeben wollen, dass sie sich mögen“ PAMELA JAHN

Bodo Morshäuser: „Blende“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985, 150 Seiten, 24 DM