Beißender Honig

Das Spiel mit der veränderten Botanik: In seiner ersten deutschen Übersichtsausstellung im Münchner Haus der Kunst zeigt der belgische Künstler Michel François leicht psychedelisierte Visionen von Menschen und Pflanzen. Agave trifft nun Styropor

von HEIKE ENDTER

„Die Pflanze in uns“ heißt die Ausstellung von Michel François. Ich überlege, ob ich auch eine Pflanze in mir habe. Sie fällt mir zwar nicht gleich auf, aber weil es für mich eine schöne Vorstellung ist, beginne ich danach zu suchen. Zu diesem Zweck sehe ich mich von innen an. Mein Großvater behauptete, das auch oft zu tun. Es war eine Redensart für das, was eigentlich passieren sollte, nämlich ein Nickerchen. Aber ich fände es schön, wenn man sich drin ein wenig ansehen könnte. Wer weiß, was es zu sehen gäbe: Carlos Castaneda sah, als er schon bei Don Juan die Erweiterung seines Bewusstseins lernte, einen Hund, der trank. Dem Hund lief die Flüssigkeit in den Hundekörper und weiter bis in die Hundehaarspitzen. Castanedas Seherlebnis hatte zumindest nichts mit dem zu tun, wonach wir unsere Begriffe von innen und außen anlegen.

Was innen ist und was außen und wie unsere Wahrnehmung von dieser Gemengelage aussieht, das sind Themen bei Michel François. Die Überschrift seiner Ausstellung soll sich auch auf einen Text von Carlos Castaneda beziehen. Zuerst, wenn man in die Ausstellung kommt, sieht man eine Agave in einem angemessen riesigen Topf. Ob Agaven irgendwie als Drogen geeignet sind, bleibt zwar unklar, aber sie sind auch so beeindruckend, besonders wenn auf einem ihrer Blätter ein großer Bund Tabak liegt. Er ist eingehüllt in dünnes Papier, das so reizend aussieht wie ein Negligé. Allerdings wie eins, das gerade abbrennt.

Die Pflanzenblätter sind dagegen etwas ramponiert. Man kann nun darüber nachdenken, ob man so eine Pflanze für schön hält oder nicht. Bedauert man die Kratzer bei einer schönen Pflanze mehr als bei einer, die man sowieso hässlich findet? Michel François sagte, er habe eine Agave ausgewählt, weil man sie für schön halten kann und für hässlich, für aggressiv wegen ihrer Dornen und für passiv, weil sie eben eine Pflanze ist, die irgendwo steht und scheinbar nichts weiter macht, als dort zu stehen.

Die Pflanze in uns könnten wir also über die Pflanzen außerhalb von uns entdecken. Um die Ecke steht in einem anderen Raum im Münchner Haus der Kunst wieder eine Agave. Ein Stück weiter sehen wir noch eine Agave. An der einen stecken leere weiße Eier, an der anderen kleben viele weiße Styroporkügelchen. Unten, wo einige Blätter nach Agavenart auf den Boden hängen, sind gelbe Flecken. Die sind vom Honig, der auf die Blätter gestrichen ist, auf dem die leichten weißen Kügelchen kleben bleiben. Seltsamerweise ist es ein etwas scharfer Geruch, den der süße Honig hat. Aber Honig hat auch einen etwas beißenden Geschmack, was man merkt, wenn man sich daran verschluckt und ein paar Tränen in die Augen steigen. Michel François meinte, die Agave würde den Honig verspeisen, ihn mit den Blättern einsaugen, und dann würden die Kügelchen abfallen. Den Honig produzieren Tiere aus Pflanzen, und Menschen produzieren Tabak aus den Tabakpflanzen. Die Pflanze kommt in uns hinein, indem wir sie aufnehmen, wie den Honig, den Tabakrauch oder einen Salat. Das ist pragmatisch gedacht. Es funktioniert aber auch metaphorisch.

Eine Wand ist mit vielen Fotos beklebt. Auf der einen Seite kleben in verschiedenen Größen bunte und schwarzweiße Fotos, die andere zeigt eine Reihe gleichgroßer schwarzweißer Bilder: ein runder Menschenbauch, ein Baumstamm mit einer Schwellung, ein Kopf, der sich durch einen Kragen zwängt; daneben ein Gesicht in einer weißen Flüssigkeit, die an Milch erinnert, und ein Baumstamm mit einem Augenmuster auf seiner Rinde. Wer dabei Probleme hat, die Pflanze in uns zu erkennen, hat sie vielleicht auch, weil im Untertitel zur Ausstellung – erstmals außerhalb des frankophonen Raumes – das Gesamtwerk von Michel François angekündigt ist. Es gab sonst auch Titel wie „Die Welt und die Arme“, eine Werkgruppe, aus der einige Fotos stammen. Aber die Metaphern funktionieren, wie jede Metapher, durch die Ähnlichkeit. Der dicke Menschenbauch erinnert auffällig an eine pralle Frucht.

Wenn Michel François erzählt, wie er auf eine Idee zu einem Kunstwerk kam, dann beginnen die Geschichten oft so: „Als ich im Atelier saß, nicht wusste, was ich machen sollte und rauchte ...“ – und dabei fiel ihm dann dies und das ein. Zum Beispiel fiel ihm ein, Papier aufzurollen. Ziemlich dünnes Papier hat er zu einem großen Kreis gewickelt. Dazwischen sitzen Lehmklumpen und machen sich dick. Sie sind kleine Störungen, aber auch Schmuck, im Papierkreis, der trotzdem zum Schluss rund geworden ist und nicht beulig. Michel François meinte, das sei eine Metapher der Zeit, die er im Atelier verbrachte, die langsame und gewöhnlich vergehende Zeit, und dazwischen stecken kleine Veränderungen.

Man könnte denken, er verbringt seine meiste Zeit im Atelier. Michel François wurde 1956 in Belgien geboren und lebt in Brüssel, wenn er nicht auf einer seiner vielen Reisen ist. Um einige Reiseziele zu nennen, die weiter von Brüssel entfernt sind als Frankreich oder die Niederlande, nenne ich Südafrika, Brasilien, Frankreich, Togo, Indonesien (Bali und Sulawesi). Unterwegs fotografiert er mehr als zu Hause. Zu seinen Medien gehören außerdem Video, Skulptur, Installation, Computer, Klang. Bei seinen Materialien gibt es einiges aufzuzählen: Gips, Stoff, Brennnesseln, Agaven, Styropor, Glas, Sand, Wasser, Papier usw. Alles Mögliche eigentlich, was seinen Vorlieben folgt und seinen Vorstellungen.

Er selbst versteht sich nicht etwa in der Tradition von Spurensuchern oder Earth-Art-Künstlern, sondern als Bildhauer. Wenn man das Wort mit dem vergleicht, was in der Ausstellung zu sehen ist, fällt auf, wie rabiat das Wort „Bildhauer“ klingt. Michel François denkt dabei vor allem an das Berühren und Formen mit den Händen.

Dazu passt eine andere Geschichte. Sie beginnt wieder im Atelier, wo er sitzt, raucht, nichts weiter zu tun weiß und meist seine Hände in den Hosentaschen hält. Abends, nach dem Arbeitstag, wäscht er seine Hände, weil man es eben so macht. Hatte er nun gesessen und geraucht, oder gearbeitet und gesessen und geraucht? Ihm war aufgefallen, wie wichtig, das heißt auch, wie bedeutsam Hosentaschen sind. Wichtig sind sie, weil man etwas reinstecken kann, was man nicht immerzu mit den Händen tragen möchte. Wichtig sind sie natürlich auch, weil man auch die Hände, mit oder ohne zusätzliche Objekte, hineinstecken kann. Die Hände sind in den Taschen warm aufgehoben, wie in einem weichen Futteral, wo man sie ein bisschen hin- und herschieben und sich dabei durch den Stoff am Bein schubbern kann, und meist gibt es kleine Krümel in den Hosentaschen, mit denen man spielen kann. Die Krümel sind etwas, weswegen man womöglich tatsächlich mit dreckigen Fingern aus der Hosentasche hervorkriecht.

Und das alles, das ist wichtig, geschieht nur durch das Tasten und Fühlen, ohne dass die Augen irgendwelche Angaben dazu liefern würden oder könnten. Die Augen kann man solange mit etwas anderem beschäftigen – mit den Stoffbeuteln zum Beispiel, die aufgereiht unter einer Bilderwand liegen. Die hat sich Michel François mit den Händen in den Taschen ausgedacht. Sie sollen an Hosentaschen erinnern, sind aber schon randvoll mit hartem Gips, weshalb sie auch an Dinge wie Knospen, Platzen oder überhaupt an Geburt erinnern sollen. Wenn man das alles verstanden hat, weiß man, wie bedeutsam Hosentaschen sind.

Genuss- und Gedankentaschen sind es, die die Sinne anregen. Noch einmal riechen, wie es mit dem Tabakrauch aus der Richtung der Agave steht. Aber wir sind jetzt sowieso schon sehr aufmerksam und haben eine neu beschäftigte, geschärfte und aufgefrischte Wahrnehmung.

Bis 4. 3., Haus der Kunst, München