: Die postgenomische Ära
Niemand weiß, wie Prionen funktionieren, und so fehlt nun bei BSE jede Vermittlung zwischen positiv getestetem Einzelfall und vermuteter Epidemie. Alle Annahmen haben nur hypothetischen Charakter
von STEPHAN GEENE
Nichtwissen öffentlich machen! Das hätte eine wissenschaftskritische Forderung sein können. Jetzt ist es Wirklichkeit, und so richtig subversiv ist es doch nicht. BSE, eine zentrale politische Frage der letzten Monate, bringt neue biologische Akteure ins Spiel, neue Formen von Krankheitserregern und lässt nur Spekulationen zu über deren Charakter und Funktionen. Dennoch ist wissenschaftliche Expertise gefragt wie nie. Und das, obwohl mit wissenschaftlicher Klarheit nur das eine zu formulieren war: Alle Annahmen zum Syndrom BSE haben nur hypothetischen Charakter. Dabei ist der Einsatz hoch, ganze Industriesparten sind betroffen und fast die Gesamtheit der konsumierenden Bevölkerung.
Kernthema Biologie
Mit der Entzifferung des Genoms und dem Klonierungsentscheid in England war das Biologische zum politischen „Kernthema“ geworden. BSE bestätigt diese Bedeutung in gewisser Hinsicht und demonstriert die Gefährlichkeit, die von „verunglückenden“ Biofunktionen ausgeht – Folgekatastrophen in gesundheitlicher wie ökonomischer Hinsicht. Gleichzeitig unterhöhlt BSE eine Wahrheit des Biologischen, die gerade aufwändig publizistisch installiert worden war: das biologisch vorgeblich Letzte, das Genom, ist nur der Anfang neuer Forschungsnotwendigkeiten. Die Prionen, die als Erreger von BSE, aber auch des mutmaßlich humanen Pendants, der Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung gelten, gehören zu einem neuen Wissensplaneten, zu einer bereits anbrechenden postgenomischen Ära.
BSE ließe sich aber auch ganz anders verstehen, als Paradigma grundsätzlicher Grenzen biotechnologischer Wissenschaften. Nicht nur im Falle von BSE vermischen sich bei der Bestimmung biologischer Realitäten verschiedene Ebenen: Ursachen, Wirkungen und soziale Agenten gehen ein undurchschaubares Geflecht ein, in dem keine Eindeutigkeit in Sicht ist. Die Wahrheit über BSE ist nichts, das erst entdeckt werden müsste, sondern das, was sich in den Details des gesamten politischen und sozialen Raums konstituiert. Das „Schicksal“ des Phänomens BSE hängt offensichtlicher als bei den biomedizinischen Projekten von Konkurrenzen zwischen den EU-Mitgliedstaaten, von Expertenkommissionen oder ministeriellen Rücktritten ab.
Wenig trennscharf
Niemand weiß, wie Prionen funktionieren und ob sie daher überhaupt im klassischen Sinne einen Krankheitserreger darstellen. Auch die Übertragungswege sind nicht durchschaut, im Experiment konnte bisher kein Tier durch „BSE-Nahrung“ angesteckt werden. Warum soll das dann bei Menschen der Fall sein? Sind die Registrierungen an Neuerkrankungen bei Creutzfeldt-Jakob überhaupt verlässlich? Haben sich nicht vielleicht schon immer CJ-Fälle unter Parkinson-Erkrankungen verborgen oder umgekehrt? Sind Erkrankungen nicht häufig wenig trennscharf zu diagnostizieren oder verbleiben nicht selten sogar „unaufgeklärt“? Vielleicht muss – wie der Wissenschaftsphilosoph Michel Serres es ausdrückt – die Kasuistik, die Berücksichtigung des Einzelfalls, als zentrale Kategorie in die wissenschaftlichen Annahmen wieder eingeführt werden, aus dem sie die moderne Naturwissenschaft so erfolgreich vertrieben hatte. Zwischen Einzelfällen und Epidemie, zwischen positiven BSE-Tests bei einzelnen Tieren und darauf folgender Vernichtung ganzer Herden, scheint gerade in den letzten Wochen Vermittlung zu fehlen.
Bei BSE werden so genannte Außenseitertheorien immerhin zur Kennnis genommen. Ausbleibende Ergebnisse in der Ursachenforschung sensibilisieren für den Einfluss von Umweltfaktoren bei BSE oder Creutzfeldt-Jakob. Pestizide wie Organophosphat oder Mangan als Auslöser in Betracht zu ziehen, bedeutete, dass die Ursache nicht biologischer, sondern chemischer Natur wäre. Ihnen wird eher die Rolle von Co-Faktoren zugewiesen, um einem drohenden analytischen Kollaps zu entgehen. Wie viele Unbekannte in einer Gleichung lassen sich verkraften? Oder vielleicht haben eben Gleichungen nichts zu suchen bei biologischer Ursachenforschung, die außerhalb von Labors gelten sollen? Aber welchen Sinn machten dann noch die Erwartungen, die heute auf die praktische Anwendung der Gentechnologie gerichtet werden?
Ansätze zum Umdenken
Die Rolle von BSE und Creutzfeldt-Jakob in der Öffentlichkeit bildet diskursiv einen merkwürdigen Konterpart zu der Weise, in der das Biologische im Zusammenhang der Sequenzierung des Humangenoms und der in England gesetzlich zugelassenen Klonierung embryonaler Zellen dargestellt wird. Dort haben gentechnologische Vorhaben mehr mit Kombinatorik und modernem Datendesign zu tun und werfen lediglich ethische Fragen auf. Soll man das? – Dürfen „wir“ die unglaublich perfekte Anwendung einer bald kommenden Zukunft in Gebrauch nehmen? BSE zeigt demgegenüber ein ganz anderes Gesicht, der medialisierte „biologische Gegenstand“ setzt sich aus Elementen zusammen, von denen man ahnt, dass sie in eine einfache Ursache-Wirkung-Verbindung niemals passen werden. Wie viel Restanreicherung mit Tiermehl ist zu viel, wie weit muss verwendetes Rindfleisch von gefährlichen Körperzonen entfernt sein?
Die Wirkungen dieser Krise beschränken sich jedoch auf Diskussionen um Landwirtschaft und Viehzucht, dort gibt es Ansätze zu Umdenken und Umstrukturierung. Für die Biotechnologien und die wissenschaftliche Humanmedizin deuten sich aber bestenfalls ein paar neue Akzente an. Gerade diese Form des Krisenmanagements prägt das Fortschrittsdenken dieses Jahrhunderts, das Rückschläge als Gegenstandsverschiebung verdaut – zentrale symbolische oder traumatische Katastrophen wie Titanic-Untergang oder Tschernobyl einmal ausgenommen. Die Erfahrung wissenschaftlicher Grenzen produziert nur neue Betätigungsfelder. Wenn sich heute abzeichnet, dass das Genom in seiner Aussagekraft deutlich überschätzt wird – dann wandert der magische Stab einfach weiter. Die Funktion der Gene besteht in der Eiweißbildung. Jetzt müssen die Funktionen und Wirkungsweisen der Eiweiße erforscht werden. Noch mal das selbe Spiel: Wir wissen – noch – nichts, aber bald alles.
Eine Sache wahr machen
In der BSE-Krise sind wissenschaftliche Modelle, eine uneindeutige Datenlage und politische Interessen einen unauflöslichen Zusammenhang eingegangen. Eine bestimmte Wissenschaftskritik sieht darin das Merkmal von Wissenschaft schlechthin und keineswegs nur eine Indisposition. Für sie ist die Arbeit der Wissenschaft nicht der langsame Versuch, den Kern einer Sache ans Tageslicht zu bringen, sondern ein Projekt, eine Sache wahr zu machen. Spezialisten müssen in langwieriger Arbeit am Gegenstand eine Kommunikation untereinander organisieren, um einer Hypothese Stabilität zu verleihen.
Die so genannten harten Wissenschaften fühlen sich diffamiert und ihre Relevanz in Frage gestellt. Im „Science War“ schlagen die Naturwissenschaften zurück, um alles postmoderne Denken auf einen Konstruktivismus zu reduzieren. Alles für konstruierbar zu halten, sei nichts als Flucht vor der Wirklichkeit und überhaupt nur in irrelevanten Feldern wie Soziologie oder Philosophie möglich.
Laborgemeinschaften
Einer ihrer am meisten angegriffenen Vertreter, der französische Anthropologe Bruno Latour, beginnt sein gerade auf Deutsch erschienenes Buch „Die Hoffnung der Pandora“ mit einer Erzählung: Ein orthodoxer Wissenschaftler habe ihn auf einem Kongress beiseite genommen und gefragt, ob er denn an die Wirklichkeit glaube. Latour ist schockiert. Die Unterstellung, er könne die Frage etwa verneinen, bringt ihn so aus der Fassung, weil er doch als Wissenschaftler selber nichts anderes zu tun meint, als die (Natur-)Wissenschaften auf ihre Wirklichkeit hin zu untersuchen. In seinem Begriff von Wissenschaften handelt es sich dabei um Initiativen von Laborgemeinschaften, die sich auf ein Ziel hin zusammentun. Die Faktoren, die zur Herstellung einer wissenschaftlichen These nötig sind, rekrutieren sich eben aus dem gesamten Feld: publizistisch, sozial, ökonomisch. In ihrem Buch „Die Erfindung der modernen Wissenschaften“ hebt Isabelle Stengers darauf ab, dass die WissenschaftlerInnen nicht nur Produkte ihrer Zeit sind und der autonomen Wissenslogik verpflichtet, sondern dass sie Akteure sind, die die gegebenen politischen und epistemologischen Rahmenbedingungen zu ihren Interessen „mobilisieren“.
Aber was denn nun wirklich? Sind das nun alles Konstruktionen und man kann der Wissenschaft gar nichts glauben (außer, dass sie das wahr machen, also durchsetzen und suggerieren kann, was sie sich selbst suggerierte), oder aber ist es doch am Ende so, dass die Naturgesetze sich nicht unterkriegen lassen? Hypochondrie hin oder her, am Ende ist man krank oder eben nicht, nämlich gesund? Aus Sicht der Wissenschaftskritik ist das eine falsche Opposition. Die Naturgesetze machen nur Sinn im Rahmen einer endlosen Kette von Überzeugungen und Praktiken, die sorgsam darüber wacht, wo die Regel zu finden ist und was als Ausnahme gilt.
Verwertungslogik
Der Begriff der Biopolitik bestimmt seit einigen Jahren viele – meist akademische – Diskussionen. Biopolitik bezeichnet die neuen Formen, in denen sich die Individuen selbst beherrschen und damit beherrschbar sind. Alle wollen etwas aus ihrem Leben machen und integrieren dieses Streben in die Verwertungslogik der Freizeitgesellschaft und ihrer neuen Wirtschaftsordnung, der New Economy. Das Leben ist hier ein Containerbegriff für Aktivität, für professionelle wie private Energie, für Lust an den gesellschaftlich zur Verfügung gestellten Lebensmöglichkeiten, seinen Stilen und Konsumweisen sowie der darin vorgesehenen Sexualität und Familiarität, kurz: „Das Leben“ ist der Grund, aus dem die Individuen sich so anstrengen, in der Gesellschaft einen Platz zu finden. Die „Herstellung“ dieser Energie ist für den Bereich der Produktion wie des Absatzes, des Konsums zentral. Die individuellen und sozialen Spannungen sind produktiv geworden.
Leben, börsennotiert
Der Begriff Biopolitik scheint wie selbstverständlich die biotechnologischen Entwicklungen zu beinhalten. Jetzt wird Leben im biologischen Sinne ein Gegenstand ökonomischer Verwertbarkeit. Pharmaunternehmen sind börsennotiert. Geklonte embryonale Zellen werden von den BefürworterInnen als „zentraler Rohstoff der Zukunft“ bezeichnet. Hier muss aber unterschieden werden zwischen Biologie als Rohstoff im Sinne von Erdöl, aus dem Kunststoffe herstellbar sind, und Rohstoff für die Herstellung einer Fantasie namens „Leben“. Gerade Letztere ist aber das primäre Produkt und die conditio sine qua non für die Durchsetzung von Gentechnologie, lange bevor sie ihre noch zu erbringenden Lebenshilfen bewiesen hat.
Die erratischen Kulturbeiträge von Sloterdijk, Nida-Rümelin bis Houellebecq haben nicht den vordergründigen Effekt, Gentechnologie und implizite Neudefinitionen mehr oder weniger zu bejahen (oder ungeschickt zu bekritteln), sondern vielmehr, Biologisches und Leben begrifflich und affektiv miteinander zu verbinden. Houellebecq ist hier besonders effizient, weil er nichts sagt, außer dass „Fleisch“ – mit dem französischem Begriff des „chair“ gerade allem materiell Definierbaren enthoben – wieder Fleisch wird und doch metaphysisch zur philosophischen Melancholie über das Biologische wird.
Das biopolitisch Neue
Die Asymmetrie von „das Leben“ besteht darin, dass sie Außenansicht und Innenansicht verschränkt und darin eine leere Projektionsfläche übrig lässt.
Die Vorschläge vonseiten der Wissenschaftskritik, in den wissenschaftlich hergestellten Fakten komplexe soziale Beziehungen zu erkennen und ihren Anteil an der Gegenstandsbestimmung mitsprechen zu lassen, wäre ein Einstieg in einen komplexeren Umgang mit Risiken und Chancen, sie nähmen aber auch einige Marketing-Metaphysik aus dem biopolitisch Neuen.
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