Selbstverwirklichung mit Brahms

■ Mit Beethovenscher Lust zur Anti-Orthodoxie fiel der Pianist Olli Mustonen in der Glocke über Beethoven (und mehr) her

“Rotzfrech, aber total spannend.“ – „Darf man denn das ?“ – „Der macht doch, was er will.“ – „Das war irgendwie nicht so klassisch.“ – „Manches war so schön, dass ich geweint habe.“ – ... PianistenkennerInnen wissen, dass solche Pausenkommentaren nur einem gelten können, Olli Mustonen, der jetzt als Gast der Meisterkonzerte in der Glocke war. Wenn der Finne auftritt, wird man vom ersten Ton an gezwungen, von lieb gewordenen Werkvorstellungen Abschied zu nehmen. So stark, dass man etwa türenknallend geht, wie es ein Ehepaar tat, oder aber ohne Vorurteile zuhört. Im zweiten Fall kann man eine Menge erleben.

Der 35-Jährige war schon mit fünfzehn vollkommen frei von allem angeblich richtigen „Urtext“. Er begibt sich auf eine schöpferische Gratwanderung voller Risiko. Und sein verkrampftes Lächeln beim Verbeugen zeigt, dass er so schnell nicht aus den Klangwelten herauskommt, die er erfindet?

Was ist es, dass ihn so provokant macht? Der Notentext ist bei ihm nur ein Gerüst. Legati werden zu Staccati. Begleitfiguren werden, wie auch häufig beim legendären Glenn Gould, so in den Vordergrund gespielt, dass man die Hauptstimmen kaum noch hört. Dynamische Anweisungen werden übergangen, dafür ganz andere hinzugefügt, Zusammenhängendes zerrissen, Auseinanderliegendes aneinander montiert, Fortissimo-Schlussakkorde nur hingetupft: Man kann nicht umhin, zuzugeben, dass ein solcher Versuch und ein solcher Mut sich sicher mit den ästhetischen Anschauungen von Ludwig van Beethoven decken, dessen künstlerisches Ziel das rastlose “Weitergehen“ war. Auf Kriegsfuß steht Mustonen mit allem, was „dolce“, „espressivo“, idyllisch ist wie der Anfang der Sonate in D-Dur, op. 28. Das verweigert er uns konstant, bis es an manchen Stellen dann doch mit überirdischer Schönheit aufblitzen darf. Stets wird Beethovens fragmentarischer Charakter betont, jede Note schwer geboren. Und durchgehend enorm ist die Leistung, wie Mustonen aus immer weiterer Fragmentierung und Abspaltung der BeethovenschenThemen unglaubliche Energien schlägt.

Neben der Sonate op. 28 spielte Mustonen Werke, die selten oder nie zu hören sind. So das „Rondo a cappriccio“ in G-Dur, die sogenannte „Wut über den verlorenen Groschen“, die im wahrsten Sinne des Wortes ausser Fassung geriet – denn Mustonen geht immer an die technische Grenze. Oder die „Fantasie“ op. 77, von der Carl Czerny sagte, sie ergäbe ein „getreues Bild von der Art, wie Beethoven zu improvisieren pflegte“: Mustonen präsentierte einen derart bizarren Gestaltenwechsel, dass man das Kompositionsjahr 1809 kaum noch erkennen konnte. Auch die „Bagatellen“ op. 119, Stücke von zum Teil nur wenigen Takten, faszinierten in ihrer zeitlosen Disparatheit.

Für Johannes Brahms' „Variationen und Fuge über ein Thema von Händel“ op. 24 verfuhr Mustonen nun fast gegenteilig: hier baute er bis zur Fuge eine schlichtweg unwiderstehliche Organisation auf, zu der die geradezu gemeißelten, farblich immer wieder neuen Klanggestalten in keinem Widerspruch standen: vom Pianisten Brahms selbst weiß man, dass er außerordentlich spontan spielte.

Noch ein Wort zur Technik Mustonens: häufig plant er derart extreme Staccati oder Pianissimi, dass ihm Töne einfach wegbleiben – das kann man nicht ganz zu Unrecht kritisieren oder aber als diesem Stil dazugehörig akzeptieren. Häufig fuchtelt er auch die manuellen Gestalten vorher in der Luft vor und lässt sie dann quasi auf die Tasten herunterfallen: wunderbare Klangfarben ergibt das.

Unsere liebgewordenen Klassiker mit dieser Radikalität gespielt, werden zu Vorboten zeitgenössischer Musik, wie schon Arnold Schönberg das 1933 Johannes Brahms bescheinigt hatte und seinen Streichquartett-Zyklus an den späten Beethoven-Quartetten orientierte. Wie Mustonen seine eigene interpretatorische Selbstverwirklichung über die Texttreue stellt, mag vielleicht nicht jedermanns Sache sein, ist aber in jedem Falle hochgradig an- und aufregend. Ute Schalz-Laurenze