piwik no script img

Locker durchkommen

Bessere Zeiten klingt gut: Frank Goosens „Liegen lernen“, ein Roman über die Achtziger und die Schwierigkeiten, in dieser Zeit erwachsen zu werden

„Die Achtziger waren besonders um die Mitte herum und gegen Ende finster, und die Sommer waren schlecht“

von GERRIT BARTELS

Entscheidungen zu treffen fällt Helmut schon als Kind schwer. Zum Beispiel bei der Wahl der richtigen Süßigkeit: die drei Musketiere oder Hanuta, Raider oder ein Überraschungsei? Helmut weiß es nicht, so wie er später selbst im Immatrikulationsbüro noch nicht weiß, was er eigentlich studieren soll. Er schreibt sich dann für Deutsch und Geschichte ein, weil er in der Schule in diesen Fächern immer gut war, und für Politik, weil ihm nichts Besseres einfällt. Mit den Frauen verhält es sich nicht viel anders. Die kommen und gehen, vor allem aber kommen sie, und Helmut lässt es geschehen. Als schließlich eine Partnerin ihn im Bett mit einer anderen erwischt, bleibt Helmut liegen, „was nicht hieß, dass ich mich entschieden hatte, liegen zu bleiben. Das war nicht leicht, das Liegen. Auch Liegenbleiben, bewusstes Liegenbleiben, will gelernt sein.“

Ein Roman über die Schwierigkeit, Entscheidungen zu treffen, Vorstellungen von der Zukunft zu haben, erwachsen zu werden, und ein Roman über die Achtzigerjahre: Der 1966 geborene Bochumer Kabarettist Frank Goosen erzählt in „Liegen lernen“ die Geschichte eines reichlich lethargischen Schülers und Studenten, der in den Achtzigern in einer Stadt im Ruhrgebiet seine entscheidende Sozialisation erfährt. Musik ist wichtig, die Mädchen sind es, die ersten Partys und auch die Politik: Helmut ist in der Öko-AG oder im Arbeitskreis Nicaragua, aber nur, weil er dort in die Nähe von Britta gelangen kann, seiner ersten und einzig großen Liebe. Helmut ist gegen die Nazis und die USA, er ist gegen sauren Regen und Waldsterben, natürlich, vor allem aber, damit er seinem Gitarrenlehrer Gründe nennen kann, Gitarre spielen zu lernen.

Er taugt also nicht gerade zum Vorzeigen, dieser Helmut, der Ich-Erzähler in Goosens Roman, groß Staat lässt sich mit ihm nicht machen, ja, er scheint ein nicht untypischer Vertreter jener Generation zu sein, die wahlweise mal als „89er“, „X“ oder „Golf“ bezeichnet wird: unpolitisch, schlaff, orientierungslos. Zeitgeschichte jedenfalls berührt Helmut nur wenig, ob das Helmut Kohls Wahl zum Bundeskanzler 1983 ist: „Wir waren dagegen. Gegen Kohl. Aber wir sagten es keinem.“ Oder die Wiedervereinigung: „Na gut, das war schon alles bemerkenswert, aber irgendwie war es nur Fernsehen.“

Andererseits ist Goosens Buch ein gutes Beispiel dafür, dass sich individuelle Erfahrungen und Wahrnehmungen nicht immer über einen Generationskamm scheren lassen. So liest sich „Liegen lernen“ zwar in manchen Passagen wie eine Ergänzung zu Florian Illies „Generation Golf“, wenn Goosen seine Achtziger genau beschreibt: das Teetrinken und die Bäckerhosen, der Fahnder und die SOKO 5113, Klaus Wennemann und Olivia Pascal, schmale Lederkrawatten, pastellfarbene Polohemden und bis zum Ellenbogen hochgezogene Jackettärmel.

Dass aber die Achtziger auch gern als Jahrzehnt gelten, in dem der Spaß am allergrößten war (Rainald Goetz), in dem Hedonismus auf breiter Ebene salonfähig wurde, in dem Stilbewusstsein als politisch galt, als das Jahrzehnt von ABC, Madonna, Blanc Mange, Bols blau und rosaroten Panthern – keine Spur davon in „Liegen lernen“. Helmut jedenfalls hat keinen Spaß: „Die Achtziger waren besonders um die Mitte herum und gegen Ende finster, und die Sommer waren schlecht“, heißt es einmal, oder an anderer Stelle: „Die Achtziger waren keine gute Zeit, um erwachsen zu werden, jedenfalls keine Zeit, auf die man voller Sentiment zurückblicken kann. Schlaghosen, Clogs, Abba, Ilja Richter – die Siebziger hatten Charme, da kam noch was aus den Sechzigern rüber, vielleicht sogar die Ahnung der Idee, die Welt könne besser werden. Die Achtziger hatten so etwas nicht.“

Da schwingt die Sehnsucht nach besser klingenden, vielleicht auch nach politisch bewegenderen Zeiten mit, da erklärt sich auch die seltsame Begeisterung Helmuts für Musik, die man mit den Achtzigern überhaupt nicht assoziert und die eigentlich aus den Sechzigern und Siebzigern stammt: Bob Dylan, die Beatles, Bruce Springsteen, Barclay James Harvest, Simon & Garfunkel, die Eagles. Überhaupt die Musik: Was sie anbetrifft, wirkt Goosens Roman eine Idee zu kalkuliert, wie ein Konzeptbuch, das zielgruppengerecht seinen Platz zwischen Nick Hornby und Benjamin von Stuckrad-Barre finden soll.

Das fängt beim Cover an, das eine Platte von Barclay James Harvest zeigt, setzt sich in den drei Kapitelüberschriften fort, die an die Anzeigen von CD-Playern erinnern, und findet seinen Niederschlag natürlich auch im Buch mit haufenweise von Helmut erinnerten Songzitaten. Doch entscheidenden Einfluss auf den Lebensentwurf Helmuts, so man von einem Entwurf sprechen kann, hat die Popmusik nicht, sie läuft höchstens als Tonspur zwischen Uni und Helmuts Frauengeschichten mit. Aber „ein mit viel Musik orchestrierter Roman“ (Verlagswerbung) macht sich halt immer gut.

Das aber ist der einzige Einwand gegen diesen schönen Entwicklungsroman, der von Goosen temporeich und unangestrengt erzählt wird und der Helmut anfangs selbstironisch, später aber leise verzweifelt sieht: Trotz eines ihn befriedigenden Jobs als wissenschaftlicher Assistent eines angesehenen Geschichtsprofessors an der Uni merkt er, dass die Zeit voranschreitet, aber nicht er selbst, und dass sich mit den Jahren nur die Macken und Ansichten seiner kleinbürgerlichen Eltern bei ihm einschleichen.

Sehr traurig, aber toll und nicht zu ändern, Helmut, „dieses verantwortungslose, bindungsunfähige, triebhafte Arschloch“, wird einem dann sogar irgendwie sympathisch. Am Ende hilft dann aber auch die tatsächlich sehr an Nick Hornbys „High Fidelity“ gemahnende Odyssee in seine Vergangenheit mitsamt Happyend nicht mehr: Mit Helmuts Lebens- und Gefühlsentwicklung ist es nicht weit her – gelernt hat er nicht mehr als liegen, und das bedeutet in dem kleinen Gedicht von Robert Gernhardt, das Goosens Buch vorangestellt ist: Locker durchkommen.

Frank Goosen: „Liegen lernen“, Eichborn 2001, Frankfurt/Main, 298 Seiten, 39,80 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen