Hinter den schwarzen Bergen

„Das große montenegrinische Volk hat einen eigenen Staat verdient“, sagt Ministerpräsident Filip Vujanović. An der Adriaküste denkt man genauso

aus Podgorica ANDREJ IVANJI

Im Februar blühen in Montenegro Zitronen und Mandarinen. Die Bäume mit den vollen, reifen Früchten wachsen wild entlang den menschenleeren, kilometerlangen Sandstränden. Die See glitzert in der warmen Sonne, hinter dem Küstenstreifen erstreckt sich ein hoher Bergpass, Montenegro – die schwarzen Berge. Man gewinnt das Gefühl, man sei von der Außenwelt abgeschnitten.

Tatsächlich zerbrechen sich die meisten Menschen, die an der montenegrinischen Adria leben, nicht den Kopf über die Weltpolitik. Man hört hier meistens, dass allein die Bürger Montenegros über Montenegro entscheiden sollen, und stößt auf Verwunderung, wenn man die Folgen einer möglichen Sezession auf die Region erwähnt. Die Stimmung an der Küste entspricht ganz den Bestrebungen von Präsident Milo Djukanović, der alles auf eine Karte gesetzt hat: die Unabhängigkeit der kleinen Adriarepublik. Auf der anderen Seite der schwarzen Berge, im Norden des Landes, ist die Bevölkerung vorwiegend für ein Fortbestehen der Föderation zwischen Serbien und Montenegro. In diesem Jahr soll ein Volksbegehren über die Unabhängigkeit Montenegros entscheiden. Wie immer das Resultat ausfällt, knapp wird es in jedem Fall sein.

Was geht uns das an?

Auf der alten, engen Uferstraße zwischen den mittelalterlichen Küstenstädten Budva und Kotor gibt es zu dieser Jahreszeit kaum Verkehr. Man fährt durch Fischerdörfer. In Stoliv betreibt Ohm Bogdan ein kleines Fischrestaurant. Er fischt, kocht und bedient selbst. Den hausgebrannten Grappa und Wein kauft er vom Schwager. Eine Konzession hat er nicht, doch er kennt den Finanzinspektor. Ohm Bogdan war Direktor einer Bäckerei, die Pleite gemacht hat. Seit einem Jahr kommt er mit dem Restaurant über die Runden.

„Schauen sie sich nur um. Das Meer, die Berge. Belgrad, der Sturz von Milošević, die Wende in Serbien, Kosovo, das scheint doch sehr, sehr weit von hier zu sein. Was geht uns das alles an?“, sagt er auf der kleinen Mole vor seinem Haus, wo er drei Tische gedeckt hat, „für alle Fälle, falls noch ein Gast erscheint“. Serbien sei viel größer als Montenegro, deshalb solle man sich friedlich auch formal trennen. Das sei am einfachsten, so würde man allen möglichen Konflikten in dieser ungleichen Föderation zuvorkommen. In einem gemeinsamen Staat hätte Montenegro nichts als Probleme zu erwarten. Die Serben und alle anderen Nationen seien natürlich jederzeit im Touristenparadies Monetengro willkommen.

Träge vergehen die Wintertage in Kotor in der Bucht von Cattaro. Es gibt wenig Arbeit außerhalb der Saison. Einheimische treffen sich in den unzähligen, leeren Cafés. Mit jugoslawischen Dinaren kann man nicht zahlen, die deutsche Mark ist die offizielle Währung. Man plaudert über Politik, also über das Auflösen der jugoslawischen Föderation. Man liest die Tageszeitungen Vijesti und Pobjeda, die wie die Nachrichtensendungen des staatlichen Rundfunks für die Unabhängigkeit Montenegros werben.

„Das große montenegrinische Volk hat einen eigenen Staat verdient“, brachte neulich Ministerpräsident Filip Vujanović die Bestrebungen seiner Regierung auf den Punkt. Welche Vorteile die Montenegriner vom eigenen Staat haben sollten, bleibt allerdings ein Geheimnis, da Jugoslawien in internationale Organisationen wieder aufgenommen worden ist und von Belgrad keine Kriegsgefahr ausgeht. Oft wird der neue jugoslawische Präsident, Vojislav Koštunica, mit seinem Amtsvorgänger Slobodan Milošević verglichen. Man wirft auch Koštunica „serbische Expansionspolitik“ in Richtung Montenegro vor. Koštunica interpretiere bewusst die Verfassung falsch, wenn er sagt, Montenegro verlasse verfassungswidrig den „ohnehin nicht existierenden“ Bundesstaat, meint Miodrag Vuković, der Vorsitzende des Hauptausschusses der Demokratischen Partei der Sozialisten.

Die unnachgiebige Unabhängigkeitspolitik von Präsident Djukanović hat eine Regierungskrise ausgelöst. Seine Macht und den mächtigen Polizeiapparat baute er auf einer notwendigen, vom Westen unterstützten Verteidigungspolitik gegen Milošević auf. Ohne Slobodan Milošević, mit einem demokratischen Serbien, habe die Unabhängigkeit Montenegros jedoch keinen Vorrang, meinen einige Koalitionspartner von Djukanović. Die Sozialistische Volkspartei, die größte Oppositionspartei in Montenegro, die in Koalition mit der Demokratischen Opposition Serbiens (DOS) im Bundesparlament getreten ist, wird ihre Chance bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Frühjahr suchen. Die Bürger Montenegros werden entscheiden, ob es zu weiteren Grenzveränderungen auf dem Balkan kommen wird.

Wer macht hier Geschäfte?

Die Besonnen warnen, dass ein kleines Land mit knapp über einer halben Million Einwohnern auf der Landkarte Europas keinen Platz hat. Für ein neues Luxemburg oder gar Liechtenstein bietet Montenegro keine Voraussetzungen. Die Straßen sind schlecht, nicht einmal das Telefon funktioniert richtig. Wer soll so Geschäfte betreiben?

Auf die letzte Frage hat der italienische Finanzminister, Del Turco, eine Antwort. Er behauptet, einige Chefs der Mafia, vor allem die Familie Prudentino, hätten sich in Montenegro unter dem Schutz der Regierung niedergelassen. Die Montenegriner glauben es nicht so recht, dasselbe behauptete auch Milošević.

„Djukanović wird es ergehen wie Milošević. Er wird nach den Wahlen sein blaues Wunder erleben, es wird im ergehen wie dem serbischen Diktator, unter dessen Militärmantel ja auch unser Präsident hervorgekrochen ist“, sagt ein ehemaliger Bankdirektor aus der Hauptstadt Podgorica. Das neue Regime in Montenegro habe ihn in den vorgezogenen Ruhestand getrieben.

Montenegro versucht, sich wirtschaftlich mehr an Kroatien anzulehnen. Stahl aus Niksić, Aluminium aus Podgorica, Haushaltsmaschinen Marke Obodin aus Cetinje, Holz und Papier aus Berane – alle diese Produkte sind in Serbien absetzbar, finden jedoch weder in Kroatien noch sonst auf der Welt einen Markt, weil zu teuer und zu altmodisch produziert wird. Die Serben sind die wichtigsten Feriengäste, ihretwegen lebt der Süden des Landes auf. In Bar gibt es einen großen Umschlaghafen, in Bijela bei Hercegnovi eine Werft. Aber mit den vielen kroatischen Konkurrenten können sie es nicht aufnehmen.

„Unsere Wirtschaft hat ihren Aufschwung der Finanzhilfe aus dem Ausland zu verdanken, die Eigenständigkeit der Währung konnte nur mit Hilfe ganzer Flugzeugladungen deutscher Mark in bar errungen werden. Zurzeit ist aber der jugoslawische Präsident Koštunica der Liebling des Westens. Uns hat man nur im Kampf gegen Milošević geholfen“, sagt der pensionierte Bankdirektor, auf dessen Worte niemand mehr hören will.

Von Belgrad geht keine Gefahr mehr aus. Die führenden Generäle und Admiräle, denen Montenegro ein Dorn im Auge war, wurden von Koštunica abgelöst. Montenegro droht nun eine innere Auseinandersetzung, die auch für den Rest der Region gefährlich werden könnte.

Mehrmals ist es fast zu Prügeleien zwischen Sezessionisten und Föderalisten gekommen. Vor allem ging es dabei um die Kirche. Freunde der Unabhängigkeit des Landes wollen auch die Landeskirche von der serbischen orthodoxen Kirche abtrennen. Oben in den Bergen, besonders in der Umgebung der alten Hauptstadt, Cetinje, wird um einzelne Gotteshäuser regelrecht gekämpft.

Hier residiert auch der streitbare Metropolit Montenegros, Amfilohije, mit bürgerlichem Namen Rista Radović. Der magere Asket mit wallendem Bart und feurigen Augen soll Ambitionen auf den Thron des Patriarchen in Belgrad haben, denn der Amtsinhaber, Pavle – Paulus – ist über achtzig und gebrechlich. Amfilohije hat früher Djukanović gegen Milošević unterstützt, jetzt sieht er in ihm den Gottseibeiuns. Djukanović will sich nämlich nicht in den Streit, welcher Kirchengemeinde welches Gotteshaus gehört, einmischen, sondern dieses Problem als Eigentumsstreit den ordentlichen Gerichten überlassen. Amfilohije aber will Oberhaupt einer Staatskirche werden.

Zwei Jahrhunderte lang haben die Metropoliten Montenegros, alle aus dem Hause Petrović, auch die weltliche Herrschaft ausgeübt. Aus dieser Familie entstammte die Dynastie der Petrović, deren letzter Spross, König Nikola, vor dem Ersten Weltkrieg „der Schwiegervater Europas“ genannt wurde. Seine Töchter waren mit dem italienischen König, dem bulgarischen Zaren, dem König von Jugoslawien und einem russischen Großfürsten verheiratet.

Besonders gottesfürchtig benehmen sich die meisten Montenegriner nicht, dafür umso geschichtsbewusster. Sie berufen sich nur zu gerne auf ihre alten Herrscher, die die Unabhängigkeit bewahrt haben, als die Serben unter türkischem Joch schmachteten. Bis 1918 verbarg sich ein stolzes, unabhängiges Königreich hinter den schwarzen Bergen. An der Spitze eines solchen Staates möchte Präsident Milo Djukanović auch heute stehen.