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Wenn Leichen leben

Der ewige Auftrag, Revolution als Möglichkeit lebendig zu halten: Slavoj Zizek lud nach Essen zu einer Tagung über Lenin und die „Politik der Wahrheit“. Von Lenin zu lernen hieß dabei auch: Hegel lesen

Eine „leninistische Geste“ wiederholen: keine Rückkehr zu Lenin, sondern seine „Deplatzierung“

von RENE AGUIGAH

Ein flüchtiger Blick auf den Büchertisch, und man erkennt die entscheidende Frontlinie dieser Konferenz. Auf der einen Seite Lenin: schwere Bände aus den „Gesammelten Werken“ oder billige Taschenbücher mit einem Glossar, das die schwierigen Wörter erklärt. Auf der anderen Seite, links, ungezählte Schriften von Slavoj Zizek, diese Themenmixtur aus Psychoanalyse, Coladosen, Richard Wagner, Multikulturalismus, Cyberspace und Hitchcock, auf Deutsch bei fünf oder sechs Verlagen erschienen.

Irgendwo in der Mitte des Tisches finden sich ein paar Bücher anderer Referenten – hier eine Studie von Fredric Jameson, da ein Band von Antonio Negri –, aber im Wesentlichen präsentiert die Auslage den Organisator der Tagung und ihren Gegenstand.

Um über Lenin zu diskutieren, hatte Zizek nach Essen ins „Haus der Technik“ geladen, einen jener von innen vergilbten Backsteinpaläste, die es nur im Ruhrgebiet gibt. Interessierte aus allen Ecken der globalisierten Welt sind ihm gefolgt, eine kleine Internationale (mit nur einer Frau und keinem Deutschen unter sechzehn Referenten). Man müsse unter den gegenwärtigen Bedingungen eine „leninistische Geste“ wiederholen, forderte Zizek, keine Rückkehr zu Lenin, sondern seine „Deplatzierung“. Obwohl diese Kombination aus inhaltlicher Unbestimmtheit und performativer Emphase Beifall geradezu provoziert, folgten ihm bei weitem nicht alle Teilnehmer. Vielmehr gab es ein bizarres „Requiem“ auf die Solidarität in der Zweiten Welt; es gab einzelne Spartakisten, die Milošević zum letzten aufrechten Sozialisten verdrehten; vor allem aber gab es eine breite Kohorte antiquarischer Geschichtsschreiber, die darüber stritten, wie viel Hegel die echte marxistisch-leninistische Lehre wohl enthalte, brave Philologen, die, mitten unter Leninologen, versuchten, den wahren Lenin von der Leninologie zu befreien.

Als der New Yorker Journalist Doug Henwood aussprach, wie unbeeindruckt Globalisierungsgegner wie die von Seattle angesichts jeder Kaderpolitik wären, schauten viele leere Gesichter aus dem Halbrund des Hörsaals. Wenn Lenins Name heute noch ein Versprechen in sich trage, liege es nicht in den historischen Formationen Sozialismus oder Kommunismus, stellte Fredric Jameson dagegen fest. Er sah die Bedeutung Lenins in dem unaufhörlichen Auftrag, Revolution als Möglichkeit lebendig zu halten.

An diesem Punkt traf sich Jameson mit Zizek, auch wenn dessen Lenin-Lektüre selbst schon kämpferischer Art war: Er löst einzelne, auch widersprüchliche Elemente heraus und stellt sie nebeneinander. Zum Beispiel den Lenin, der sich mitten im Ersten Weltkrieg nach Zürich zurückzog, um Hegel zu studieren. „Genau das sollten wir heute auch tun“, sagt Zizek und wird vorübergehend ganz Philosoph, der nicht nur die Zeit, sondern auch die bürgerliche Gesellschaft in ihren Gedanken erfassen will: Hegel als Symptom.

Ein anderer Lenin ist jener von 1918, der über einen Staat und eine Partei verfügte, nicht aber über eine Arbeiterklasse. Bei Marx war das nicht vorgesehen, also entschied Lenin, organisierte, setzte um.

Zizek lehnt also die unmittelbare revolutionäre Aktion genauso ab wie jene Scholastik, die manche Gelehrte in Essen so wirkungsvoll ermüdend vorführten. Er plädiert – so auch der eigentliche Tagungstitel – für eine „Politik der Wahrheit“. Dass die Prawda zur publizistischen Inkarnation eines totalitären Staates wurde, interessiert ihn dabei nicht. Er greift sich Lenins philosophischen Wahrheitsbegriff: radikal einseitig, parteiisch, polemisch. Die Wahrheit steht nicht über den Dingen, sondern ist in konkrete Auseinandersetzungen verwickelt – ohne dabei auf die Dimension des Notwendigen zu verzichten und zum bloßen Meinungsaustausch der sonntäglichen Talkshows zu verkommen. Ein derartig paradoxes Konzept könnte sich auf Autoren wie Jean-Paul Marat, Brecht oder Foucault berufen, aber solche Namen kommen Zizek nicht über die Lippen: Mit Lenin erzielt er in der Ökonomie der Aufmerksamkeit höhere Werte. Die Millionärsfrage: Wer hat Angst vor den Bolschewiki?

Dieser Thrill ging dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen, offizieller Ausrichter der Tagung, möglicherweise zu weit, wer weiß. Sicher ist: Einige Tage vor der Konferenz wurden zuvor veröffentlichte Unterlagen von der Website des Instituts gelöscht. Sicher ist auch, dass Institutsleiter Jörn Rüsen hervorragende Kontakte zur nordrhein-westfälischen Landesregierung pflegt; der sozialdemokratische Ministerpräsident Clement hat selbst jenen mit einer Million Mark dotierten Forschungspreis übergeben, der Zizeks Arbeit in Essen finanziert.

Ob das wundersame Verschwinden der Texte purer Zufall ist? Oder eine Maßnahme, um die Nerven privater Geldgeber zu schonen? Oder die Wiederaufnahme – als Farce, versteht sich – des alten Bruderzwistes unter Marxens Urenkeln?

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