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Haiti bleibt dem Chaos überlassen

Jean Bertrand Aristide tritt heute seine zweite Amtszeit als Präsident von Haiti an. Gestern verließ auch die UNO den Karibikstaat. Niemand will mit dem Chaos etwas zu tun haben, schließlich gibt es dort auch wirtschaftlich nichts zu holen

von TONI KEPPELER

„Ihr Blut wird zu Tinte werden, ihre Haut zu Pergament, ihre Schädel zu Tintenfässern.“ Paul Raymond, der Anführer eines Schlägertrupps der Lavalas-Partei, spricht eine makaber-deutliche Sprache. Ganz öffentlich bedroht er Menschen mit dem Tod: Oppositionspolitiker, Journalisten, Kleriker. So geschehen vergangene Woche in der Ruine der Kirche St. Jean Bosco in einem Armenviertel der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince. Jean Bertrand Aristide hat hier, als er noch Armenpriester und ein Hoffnungsträger war, einen von vielen Mordanschlägen überlebt. „Lang lebe Aristide!“, ruft Raymond am Ende seiner Rede. Unter seinen Zuhörern waren einige der Journalisten, deren Namen auf der Todesliste standen.

Der 47-jährige Aristide tritt heute seine zweite Amtszeit als Präsident an. Gestern zog die Mission der Vereinten Nationen ab. Nicht etwa, weil ihre Arbeit erledigt und die Demokratie in Haiti wieder hergestellt wäre. Im Gegenteil. Für UN-Generalsekretär Kofi Annan ist es sinnlos geworden, auch nur einen Tag länger in diesem chaotischen Karibikstaat zu bleiben. Bereits im November kündigte er an, die letzten 300 UNO-Polizisten würden wegen andauernder „politischer Unruhe und Instabilität und wegen fehlenden politischen Interesses“ abgezogen. Die USA haben sich schon vor über einem Jahr verabschiedet. Haiti wird von der politischen Landkarte Lateinamerikas gestrichen.

Was Unruhen und Instabilität angeht, hat Annan recht. Seit Aristide am 27. November vergangenen Jahres zum Präsidenten gewählt wurde, sind allein in Port-au-Prince 19 Bomben explodiert. Regierung und Opposition schieben sich gegenseitig die Urheberschaft zu. Die Polizei hat in keinem Fall einen Täter ermittelt. Wenn Aristide nun seine Regierung ernennt, wollen die in der „Convergence Democratique“ zusammengeschlossenen Oppositionsparteien eine Gegenregierung ausrufen.

Aristide fehle jegliche demokratische Legitimation, sagt die Opposition. Weder die Präsidentschaftswahl vom November, noch die Wahlen zu Parlament und Senat im Mai waren sauber. Im Mai hatte sich Aristides Lavalas-Partei 71 der 86 Abgeordnetensitze und 26 von 27 Senatoren gesichtert. Allerdings: Zehn dieser Senatoren erreichten nicht die absolute Mehrheit, bekamen aber trotzdem ein Mandat. Die Opposition boykottierte deshalb die Präsidentschaftswahl.

Wie diese Wahl ausging, ist unbekannt. Offiziell heißt es, 60 Prozent hätten gewählt, 92 Prozent davon Aristide. Die Opposition spricht von einer Wahlbeteiligung von unter 5 Prozent. Wahlbeobachter halten knapp 20 Prozent für wahrscheinlich. Doch egal wie und mit oder ohne Boykott – Aristide hätte die Wahl unter allen denkbaren Umständen gewonnen. Denn die „Convergence Democratique“, ein Bündnis der schmalen Mittel- und Oberschicht, hat zwar Geld, aber keine Basis. Die zu über 90 Prozent verarmte Bevökerung setzt ihre Hoffnung weiter auf den früheren Armenpriester.

Aristides Glück ist, dass er bislang noch keine richtige Chance zum Regieren hatte. 1991 wurde er nach sieben Monaten im Präsidentenamt weggeputscht und erst drei Jahre später nach einer Militärintervention der USA wieder eingesetzt. Es blieben ihm gerade noch eineinhalb Jahre. Weil die Verfassung eine direkte Wiederwahl verbietet, wurde zunächst seine Marionette René Préval Präsident. Der war in seiner Regierungszeit vor allem damit beschäftigt, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen immer weiter hinauszuschieben. Aristide hielt sich während dieser verlorenen Jahre im Hintergrund und konnte so im Wahlkampf mit zwei oder drei populistischen Auftritten unbelastet an seine Zeit als Hoffnungsträger der Armen anknüpfen.

Dabei ist Aristide längst kein armer Priester mehr, sondern Familienvater mit zwei Kindern, Villa und Swimmingpool und genauso korrupt wie die gesamte Politikerkaste. Er verspricht noch immer den Sozialismus, aber wahrscheinlicher ist die Barbarei. Auftritte wie die von Paul Raymond in der Ruine St. Jean Bosco sind ein Ergebnis von 29 Jahren Duvalier-Diktatur und weiteren 15 Jahren Chaos und Gewalt. Aristide hielt es nicht für nötig, sich von den Morddrohungen zu distanzieren.

Kein Wunder, dass UNO und USA damit nichts mehr zu tun haben wollen. Es gibt auch keine Wirtschaftsinteressen: Das Land ist bitterarm und ohne Bodenschätze. US-Präsident George Bush wird es erst dann zur Kenntnis nehmen, wenn entweder tausende Boat People über das Meer nach Florida kommen. Oder aber, wenn noch viel mehr kolumbianisches Kokain von Haiti aus in die USA verschifft wird als heute schon.

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