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Sinnlichkeit in vollen Tüten

Der filmende Onkel Lasse Hallström erzählt in „Chocolat“ (Wettbewerb) eine dörfliche Geschichte über Glückspralinen, Kriegswitwen und einen schnulzenden Johnny Depp

Er ist der Patenonkel unter den Regisseuren. Einer, der sonntags vorbeikommt, sich in der guten Stube niederlässt und uns mit warmer Stimme Geschichten erzählt. Und wenn wir artig zugehört, den feuchten Onkelkuss auf unsere Stirn erduldet haben, bekommen wir noch ein dickes Bonbon in die Hand. Dann rauscht er wieder ab und wir leben noch einen Augenblick in der Gewissheit, dass die Welt doch ein kuscheliger Fleck ist, auf dem einem eigentlich nicht viel passieren kann – solange man ein Herz größer als ein Einkaufszentrum hat und den bösen Onkels, dem Schicksal bis hin zu Pest und Zecken entgegenlächelt.

Das dickste Bonbon, das Regisseur Lasse Hallström je verabreicht hat, ist seiner neuer Film „Chocolat“. Ein selbst seliges Märchen von Vivianne, einer Chocolaterie-Betreiberin (Juliette Binoche, zum ersten Mal mit rosigen Wangen und Sophia-Loren-Dekolletee), die mit ihren Konditorkünsten das Elend der ganzen Welt verarztet. Dem einen verhelfen ihre Pralinen zu ungeahntem Liebesglück. Bei anderen unterstützen sie kreative Talente. Sie trösten geprügelte Ehefrauen und lassen selbst die hartnäckigsten Nöler zu erträglichen Geschöpfen werden. Bald lächelt fast das ganze Dorf wie eine Bagwan-Gemeinde.

Nur Staat (Alfred Molina als Bürgermeister Comte de Reynaud) und Kirche boykottieren die Sinnlichkeit in Tüten. Doch sind Johnny Depp als abonnierter Halbzigeuner und sein Kompagnon, der Hippie Roux, schon unterwegs, um mit Schmelz und Schnulzen diesem weltlosem Kitsch die Überdosis zu geben.

Gab es bei „Gilbert Grape – irgendwo in Iowa“ oder der John-Irving-Verfilmung „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ neben einer Ansammlung von Skurrilitäten auch noch ernst zu nehmende Konflikte, Spannungen und Zumutungen, die sich nicht mit einem Lächeln erledigten, hat sich Hallström hier restlos von der eigenen Inszenierung verzücken lassen.

Seine verwunschener Ort Lansquenet-sous-Tanne im Frankreich von 1959 ist ein Modelldörfchen. Die Verwitterung, der Dorfknatsch und die Ahnung von vergangenen Schlachten machen es nur noch putziger. Von ein paar Witwen abgesehen, hat der Krieg hier keine Spuren hinterlassen. Das sind schwarzgekleidete Damen mit Dackeln an der Leine, die, einmal unter Schokolade gesetzt, schon dafür sorgen, dass man auch im Alter prima anbändeln kann.

Vivianne und ihrer Tochter Anouk lässt Hallström dagegen in exotischen Traumsequenzen eine Familientherapie angedeihen. Die Schokoladenkünstlerin wird von ihrem Nomadenleben, der Asche ihrer Mutter und allerlei anderem alten Ballast erlöst. Und wenn wieder dieser scharfe Wind bläst, der sie einst in das Dorf geblasen hat, braucht sie diesmal nicht mehr ihre Sachen packen. Dann steht sie am Fenster. Lacht. Und schüttelt ihr Haar. Danke, Onkel Hallström.

BIRGIT GLOMBITZA

„Chocolat“. Regie: Lasse Hallström, USA, 121 Min.

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