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Vier Holzpfosten, ein Blechdach

„Was ich brauche, sind Räumgerät und Geld“, sagt der Bürgermeister von Tecoluca. Was er bekommt, sind Essenslieferungen. Aber die schaden nur

aus Tecoluca TONI KEPPELER

Tecoluca war einmal eine Kleinstadt, in der man einen Western hätte drehen können: Kleine Lehmziegelhäuschen im Kolonialstil an staubigen Straßen. In der Dorfmitte eine weiße Kirche. Rund um den Platz davor ein Arkadengang, in dessen Schatten die Männer Schutz vor der sengenden Sonne der Küstenebene suchten. Und tatsächlich kam ab und zu ein Reiter vorbei, mit breitkrempigem Hut, Sporen an den Stiefeln und einem Revolver am Gürtel. So war das in Tecoluca, bis zum 13. Januar um 11.34 Uhr. Da fiel das Kreuz vom Kirchturm herunter.

Seither ist nichts mehr, wie es war. Die Ziegeldächer des Arkadengangs sind eingebrochen, der Markt ist ein Trümmerfeld, die allermeisten Häuser sind Ruinen. Oft stehen nur noch Teile der Grundmauern. Die Menschen wohnen in dem, was einmal ihr Hinterhof war. In Behausungen, die aus schwarzen Plastikplanen improvisiert wurden. Wer Glück hatte, dem stellte eine Hilfsorganisation ein Zelt hin. 75 Familien kampieren auf dem Sportplatz.

In der Luft liegt Staub. Mit Hammer und Meißel reißen die Leute ein, was von ihren Häusern übrig geblieben ist. Was nützlich sein könnte, wird zu Seite gelegt. Die abbröckelnden Steine werden von Hand zu großen Haufen zusammengetragen. Es gibt kein schweres Räumgerät. Hilfe beim Abriss kommt nur von der Natur, und die ist gefährlich. Vergangene Woche gab es ein Nachbeben der Stärke 5,1 auf der Richterskala. Das große Beben vom 13. Januar hatte die Stärke 7,6. 5,1 reichten, um den schiefen Mauern den Rest zu geben.

Am 13. Januar gab es in Tecoluca keinen Toten. „Das Beben kam langsam und wurde immer stärker“, erzählt Orlando Muñoz, der heute auf dem Sportplatz Lebensmittel verteilt. „Alle hatten Zeit, aus dem Haus zu rennen. Gott sei Dank war es am Tag. So gab es nur zwei Dutzend Verletzte.“ Trotzdem ist die Bilanz erschreckend: Von den 800 Häusern, die einmal den Ortskern gebildet haben, sind nur noch 45 bewohnbar. Einzelne Weiler, die zur Gemeinde gehören, wurden ganz zerstört. 200 Jahre alte Häuser, die schon manch ein Beben überstanden haben, stürzten zusammen. „Das ist kein Wunder“, sagt Bürgermeister Carlos Cortéz. „Das durchschnittliche Einkommen eines Bauern ist, an der Kaufkraft gemessen, in den letzten 20 Jahren auf ein Drittel gesunken. Die Leute haben einfach kein Geld mehr, um ihre Häuser in Schuss zu halten. Die waren schon vorher baufällig.“ Es musste nur noch das Beben kommen, „die dritte Katastrophe für Tecoluca“.

Da waren zunächst zwölf Jahre Bürgerkrieg, von 1980 bis 1992. Tecoluca liegt mitten in der fruchtbaren Küstenebene. Die Armee verteidigte die Interessen der Großgrundbesitzer, die Guerilla die der Landarbeiter. In kaum einer anderen Gegend gab es so viele Massaker. Am Anfang des Kriegs hatte Tecoluca 35.000 Einwohner, am Ende noch 10.000. Inzwischen ist die Gemeinde wieder auf gut 20.000 gewachsen.

Ende 1998 kam der Wirbelsturm „Mitch“. Die ganze Gegend stand unter Wasser. Die Ernte wurde vernichtet, ganze Herden von Vieh ertranken. Es traf nicht die Großgrundbesitzer, denn es gibt sie nicht mehr. Die Landwirtschaft lohnt sich nicht mehr. Mit dem Friedensvertrag gab es eine Agrarreform. Der Boden wurde verteilt, die Oligarchen wurden abgefunden. Ihr Geld steckt heute in Handel und Banken. Rund um Tecoluca wurden demobilisierte Guerilleros angesiedelt, Begünstigte der Landreform. Nicht mehr als sieben Hektar bekam jede Familie. Das reicht gerade zum Überleben. Aber „Mitch“ stürzte sie in Schulden. Bevor das Erdbeben kam, waren die Schäden, die der Wirbelsturm verursacht hatte, noch nicht beseitigt.

In den ersten Tagen nach dem Beben war Tecoluca ganz auf sich allein gestellt. Die Bewohner der Weiler, in denen es kaum Zerstörungen gab, halfen den anderen mit dem Allernötigsten. Erst neun Tage nach der Katastrophe kündigte die Regierung an, sie werde 17 Tonnen Lebensmittel von der Armee einfliegen lassen. „Wir haben Lastwagen besorgt, um alles schnell verteilen zu können. Aber dann wurde die Ankunft der Hubschrauber immer wieder verschoben, und irgendwann in der Nacht kam schließlich ein Lieferwagen voll mit Wasserflaschen“, erzählt Cortéz fast belustigt. „Das war alles.“

Heute werden dem Bürgermeister Lebensmittel angeboten. Doch er will sie nicht mehr haben. „Das muss so schnell wie möglich aufhören. Sonst gewöhnen sich die Leute daran und werden apathisch.“ Denn Nahrungsmittel sind im Prinzip vorhanden. Die Ernte wurde vor dem Beben eingefahren. „Was ich brauche, sind Räumgerät und Geld.“

Vor zwei Wochen schon hat die Regierung angekündigt, für jede obdachlose Familie würden 350 Mark für Aufräumarbeiten über die Bürgermeisterämter ausbezahlt. „Ich habe 2.711 zerstörte Häuser auf der Gemarkung, aber nur Geld für 900 bekommen.“ Wie die Regierung zu dieser Zahl kam, weiß Cortéz nicht. Sie ist, wie alle anderen offiziellen Zahlen, schlicht nicht glaubwürdig.

So wird bis heute die Zahl der Todesopfer des Bebens mit 844 angegeben. Doch das bezieht sich nur auf diejenigen, die von einem Gerichtsmediziner identifiziert wurden. Unbekannte Tote und Leichenteile kamen nicht in die Statistik, sondern in ein Massengrab. Eine Ahnung von der tatsächlichen Zahl wird man erst bekommen, wenn Angehörige ihre noch immer vermissten Verwandten für tot erklären lassen. Die bürokratischen Hürden sollen innerhalb weniger Wochen zu nehmen sein, hat das Parlament beschlossen. Üblicherweise dauert dieser Vorgang in El Salvador mindestens sieben Jahre.

Ähnlich fragwürdig wie die Zahl der Toten ist die der Obdachlosen. Die Zahlen schwanken – je nach Regierungsstelle – zwischen 400.000 und mehr als 1 Million. Auch die Summe des materiellen Schadens variiert. Mal wird er mit 2, mal mit 3 Milliarden Mark beziffert.

Zunächst hieß es, 97 der 262 Gemeinden des Landes seien vom Beben betroffen. Inzwischen ist man vorsichtiger und spricht vage von 12 der 14 Provinzen. Denn in Orten, die zunächst als „nicht betroffen“ deklariert wurden, regt sich inzwischen Unmut. Auch dort fordern Erdbebenopfer Geld von der Regierung, um die Trümmer ihrer Wohnungen beseitigen zu können. Die Proteste werden militant. Auf der panamerikanische Straße, die El Salvador von West nach Ost durchquert, brannten in den vergangenen Tagen gleich an mehreren Stellen Barrikaden.

Wie soll bei so einem Chaos gezielt Hilfe geleistet werden? Bürgermeister Cortéz sagt: Am besten vor Ort, in direkter Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen. „Ich habe 18.000 Obdachlose. Ende April beginnt die Regenzeit. Bis dahin brauche ich provisorische Unterkünfte. Vier Holzpfosten, ein Blechdach drüber und Plastikplanen, um die Wände zu verkleiden.“ Aber nicht einmal das dürfe man von der Regierung erwarten.

Das Bürgermeisteramt von Tecoluca bekommt 5 Millionen Colones im Jahr. „2 Millionen davon sind für Gehälter, 3 bleiben mir für Investitionen. Aber ich brauche allein 5 Millionen für Aufräumarbeiten. Dazu 23 Millionen für provisorische Unterkünfte und 200 Millionen für den Wiederaufbau.“ Für Cortéz ist klar: „Wenn ich mich auf die Regierung verlasse, wird Tecoluca nach 70 Jahren wieder so sein, wie es vor dem Erdbeben war.“ Ein Städtchen wie aus dem vorletzten Jahrhundert.

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