piwik no script img

kuhlbrodt berichtetKnie an Knie mit Rezzo Schlauch und Dieter Kosslick

Meine verbaselte Sternstunde

Im Forum business as usual. Die Gregors gewähren dem kollektiven Gedächtnis Weißrusslands und eventuell sogar Russlands Asyl. Jedenfalls wenn man das polnisch-französische Stundenvideo Jurij Choschtschewatskijs im Arsenal sieht: der aktuellste der „Götter mit Hammer und Sichel“ ist seine tyrannische Hoheit Lukaschenko, drinnen im Prunkpalast, während seine Männer draußen Frauen und Kinder niederknüppeln. Der Kommentar ist ironisch bis zynisch. Das gibt die alte Wut im Bauch, wie vor 30 Jahren, da hatten die Gregors im alten Arsenal angefangen.

Dieses Jahr fragte sich das andere Stundenvideo, die russische Spielfilmkompilation „Russisches Palästina“, was aus den sechs Millionen russischen Juden von 1917 geworden ist. Was passiert ist, sagen die Spiel- und Dokumentarfilmszenen selbst, unkommentiert. Im herrlichsten Sonnenschein taucht eine schöne Jüdin im attraktiven Einteiler in den kühlen See und ruft ihrem Schatz, dem besorgten Zeitungsleser, zu: „Komm! Und hör doch auf mit den Pogromen; die passieren doch andauernd!“

Jetzt wusste ich, was auf den Filmfestspielen die ganze Zeit nicht gestimmt hatte. De Hadeln inszeniert mit großem Erfolg seine Last Picture Show. Und was ist mit den Gregors? Forumsleiter Ulrich Gregor hört doch auch auf. Wo bleiben die Würdigungen? Das Abschiedsbuch?

Die offenen Fragen, denke ich, erweisen ihm den größten Respekt. Denn den Fakt, dass Gregor zurücktritt, den hört man wohl, allein es fehlt der Glaube. Wider alle Vernunft, wenn ich das sagen darf, als alter Schulfreund. 1977 war es, dass ihm, dem verdächtigen 68er, die Berliner Staatsanwaltschaft während der Berlinale eine Forumskopie beschlagnahmte: den japanischen Film „Im Reich der Sinne“. Die Gregors fochten, als hätten ihnen die Bullen ihr Kind entführt.

Im Jahr 2001 lud das Forum erstmalig zum Empfang in die Philharmonie. Wenn man den Tag heute trotzigerweise als Halbzeit nimmt, dann wagen wir die Prognose, dass das Forum sich rasant ausbreitet und gleichzeitig in Australien gesehen werden kann. Bequem im Netz. Immerhin gibt es heute schon das weltweit webende Kino, „the finest theatre on earth“, empfohlen von Gabor Altorjay: www.takemovie.net. Und muss man dieses Jahr wirklich zu den Fritz-Lang-Vorträgen der Kinemathek? „Eigentlich nicht“, sagt Referent Rainer Rother, „ich bin live im www.canalweb.de zu sehen.“

Was ist die Zukunft der Berlinale? Wir interviewten dazu Rezzo Schlauch und Dieter Kosslick, und zwar exklusiv und gleichzeitig. Ja, ich habe es geschafft, ich saß hinten links im Bovril zwischen den beiden, und zwar Knie an Knie. Die Frage, welchen Film er dieses Jahr zur Eröffnung ausgewählt hatte, gab mir Kosslick sehr präzise zurück.

Sehr bestimmt beantwortete er auch die nächste Frage. Wann er die Öffentlichkeit über seine Festivalpolitik zu unterrichten gedenke: „Die wird noch staunen. Nämlich noch eine lange Weile gar nicht.“ Bevor ich den Satz von Dieter autorisieren lassen konnte, war ich schon mit Rezzo im Gespräch. „Ich bin ja in der Filmförderungsanstalt“, fing er hochinteressant an. Ich konterte, dass ich schon seit zwanzig Jahren Kommandeur des Friedenskreuzes der alliierten Widerstandskämpfer in Europa sei und momentan nach dem passenden Aufgabenfeld suche. Wir erwogen eine halbe Stunde lang die Möglichkeiten, und damit hatte ich die Interview-Sternstunde verbaselt.

Im Bovril hatte Hans Wilhelm Stodollick, Bürgermeister der Kinofestivalstadt Lünen, eine Rede gehalten. Mich packte eine jähe Sehnsucht nach der Basis. Emir Kusturica („Underground“) kam mir da mit seinem Balkanpunkrock, den „Super 8 Stories“, entgegen. Emir tritt zusammen mit seinem Sohn in der No-Smoking-Band auf: „Police Is On My Back“, 1999 in der Volksbühne-Ost.

Heute und morgen trete ich dort mit Detlef Kuhlbrodt, der mein Sohn ist oder mein Neffe oder was, auf dem Liebesschmerzkongress als Therapeutenpaar auf. Wir haben nichts zu legalisieren, aber wir haben auch unter uns was zu klären.DIETRICH KUHLBRODT

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen