piwik no script img

Geschichten in drei Sätzen

Waren die Bücher früher dick, schwer und hatten mindestens 500.000 Zeichen, so gilt es heute schon als Ausnahme, wenn ein Buch 300 Seiten hat. Ein kleiner Beitrag über die Wortkargheit der zeitgenössischen Literatur im Allgemeinen und zur Einführung des doppelten Leerzeichens im Speziellen

von WLADIMIR KAMINER

Mit dem Untergang der Aufklärung verloren auch die Debatten über die gesellschaftlichen Aufgaben der Kultur und der Kunst ihre Ernsthaftigkeit. Die frühere Zeit war durch den menschlichen Drang zur Verbesserung und Reorganisation der Welt geprägt. Die Autoren von damals hatten viel zu sagen, sie waren mit der Beantwortung aller offenen Fragen intensiv beschäftigt. Ein Manuskript unter 400 Seiten wurde noch vor zehn Jahren überhaupt nicht als Buch wahrgenommen. Eher als eine Art Spaßheft.

Doch dann lief immer wieder alles schief – die Antworten passten nicht zu den Fragen und umgekehrt. Die Weltverbesserer wurden unsicher, in der Gesellschaft entwickelte sich eine Form des Misstrauens der Kultur gegenüber. Eine verbreitete Meinung über Kultur besagt: Sie ist unfähig, Probleme der Menschen zu lösen. Die deutschen Autoren wagen es inzwischen nicht mehr, ihren Lesern irgendwelche Vorschläge fürs Leben zu machen, die ihnen helfen könnten, in und mit der Welt besser klar zu kommen. Stattdessen verfolgen die Autoren aufmerksam die inneren Prozesse, die in ihren Organismen ablaufen, und beschreiben sie. Der eigene Organismus – eine tolle Sache. Deswegen ist die zeitgenössische Literatur so wortkarg geworden.

Die meisten Neuerscheinungen haben zwischen 120 und 190 Seiten, ein Buch über 300 Seiten ist ein seltener Vogel auf dem Bestsellerregal und weckt Misstrauen. „Was will der Autor uns damit sagen?“, denkt der potenzielle Leser. „Warum ist sein Buch so dick? Will er etwa mehr als die anderen zu sagen haben? Wahrscheinlich ist der Mann verrückt oder, noch schlimmer, ein Querulant.“

Und dabei hat der Leser nicht mal Unrecht. Selbst Leo Tolstoi, der unsterbliche Verfasser von „Anna Karenina“ und anderen dicken Werken, die alle weit über 500.000 Zeichen haben, sagte einmal: „Es gibt auf der ganzen Welt keine Geschichte, die man nicht in drei Sätzen erzählen kann“.

Die zunehmend unterdrückte Schreibsamkeit hat als Literaturphänomen sogar schon solche geschwätzigen Bereiche wie Science-Fiction, Fortsetzungsromane und Sexratgeber erreicht. DieFantasy-Autoren lassen ihre Helden immer weniger Abenteuer erleben und immer mehr über sich räsonieren, die Ratgeber enthalten immer weniger Sex-Tipps – ganz egal, ob es sich dabei um die Verführung der Frau oder die des Mannes handelt.

Das deutsche Verlagswesen steht bereits auf dem Schlauch. Besonders in der Unterhaltungsliteratur, also dort, wo die Größe und Dichte eines Buches eine bedeutsame Rolle spielt, mutieren die Verleger zu Abzocker und verlieren das Vertrauen der Kundschaft. Heute wollen sie für ein Buch, mit dem sich der Kunde höchstens zwei Stunden unterhalten kann, 40 Mark haben, obwohl man noch gestern zum selben Preis ein Buch erwerben konnte, das eine gleichwertige Unterhaltung für eine volle Woche garantierte.

Also bemühen sich die Verlage, durch umständliche Satzkonstrukte bei der Übersetzung von englischen Originalen in die deutsche Sprache sowie durch die Vergrößerung der Schrift, der Zeilenabstände und der Seitenränder etc. bei den original deutschen Autoren, alle Bücher dicker und dadurch auch teurer zu machen. Es entsteht ein mit Layout-Reformen kaschiertes Betrugssystem: Leser! Traue deinen Augen nicht. Zähle nach!

Wenn früher hundert Buchseiten aus mindestens 300.000 Zeichen und mehr bestanden, sind es heute 100.000, höchstens 120.000 geworden. Weniger Buchstaben für mehr Geld, lautet die Botschaft der Verlage. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, weil die zeitgenössischen Autoren pro Buchstabe honoriert werden wollen.

Ein großer Beitrag zur Verdichtung des Buches leistet auch die neue deutsche Rechtschreibreform. Wenn die Plauderautoren von gestern am liebsten alles zusammengeschrieben hätten, was zusammenzuschreiben gilt, müssen ihre Nachfolger laut der neuen Rechtschreibreform alles aus ein ander nehmen, was aus ein ander zu nehmen ist. Die Einführung des doppelten Leerzeichens ist in dieser Perspektive der letzte Tropfen – in gewisser Weise aber auch ein Zeichen unserer Zeit, die durch Sprachlosigkeit und Erstaunen der Welt gegenüber gekennzeichnet ist.

Andererseits steht das doppelte Leerzeichen für das moderne Sponsoring junger Talente – als Zeichen ihres Wohlstandes. Bis vor kurzem bestand jeder Text nur zu einem Drittel aus Leerzeichen. Mit der Einführung des doppelten Leerzeichens verdoppelt sich also, quasi automatisch, auch die allgemeine Leerzeichenmenge des Textes, damit des Wissens und der Kultur. Und so ist allen geholfen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen