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Karneval der Friedenssehnsucht

In Rio de Janeiro dominiert beim diesjährigen Karneval die Sehnsucht nach dem Frieden im Alltag, doch die Sambaschulen dürfen bei ihren Umzügen den Krieg zwischen Drogenhändlern und Polizei in den Favelas nicht kritisch darstellen

aus Rio de Janeiro GERHARD DILGER

„Solange es in Brasilien Karneval und Fußball gibt, werden Revolutionen ausbleiben“, urteilte der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa, nachdem er einen Karnevalsumzug in Rio miterlebt hatte. Während Brasiliens Fußball derzeit von Krise zu Krise taumelt, kann man dies vom Karneval nicht behaupten: Sonntagabend begann die erste von zwei Prachtparaden durch das „Sambódromo“ im Zentrum Rios – mit mehr Zuschauern denn je.

Die Sambaschulen mit bis zu 4.000 TänzerInnen gestalten ein selbst gewähltes Motto mit prunkvollen Kostümen und „allegorischen“ Aufbauten, einem Sambalied und einer ausgeklügelten Choreografie. Sonderpunkte vergeben die Preisrichter für die Perkussionsgruppe, die Bannerträger, Rhythmus, Melodie und Text. Die Siegerschule wird morgen gekürt.

Gleich neun der 14 großen Sambaschulen, die meist in den Elendsvierteln beheimatet sind, greifen dieses Jahr das Thema „Frieden“ auf. Im Motto „Einigkeit macht stark“ der Sambaschule União da Ilha fanden sich 56 Jugendliche aus einer Tanzgruppe im Norden Rios wieder. „Um Einigkeit geht es uns auch, wir arbeiten zusammen, um die Jugendlichen von Gewalt und Drogenhandel fern zu halten“, sagt Tanzlehrerin Rosangela da Silva Barbosa. Die 12-jährige Carla Rodrigues sagt über ihren Auftritt: „Wir zeigen, dass es in der Favela nicht nur Krieg gibt.“

Der Priester Marcelo Resende regte die Sambaschule Mocidade Independente de Padre Miguel zum Motto „Frieden und Harmonie“ an. Auf einer Leinwand wurden Gewaltszenen dargestellt. Ein Springbrunnen symbolisierte den notwendigen Reinigungsprozess. Auf seinem Rollstuhl dabei war Marcelo Yuka, Schlagzeuger der Kultband O Rappa, der vor drei Monaten knapp einem Mordanschlag entging.

„Die Sambaschulen sind kulturelle Vehikel, die die realen Dramen der Brasilianer widerspiegeln“, glaubt der engagierte Priester. Das gilt wohl nur mit Einschränkungen: Die allgemein gehaltenen Sambatexte haben noch nie Anstoß erregt. Und abgekommen war die Mocidade-Sambaschule auch von ihrer Absicht, eine Geiselnahme in einem Stadtbus darzustellen, die im letzten Jahr stundenlang live im Fernsehen übertragen wurde – als die Polizei den geistesgestörten Geiselnehmer attackierte, erschoss der eine junge Frau.

Auch die Sambaschule Grande Rio machte in letzter Minute einen Rückzieher: 150 junge Schauspieler wollten drastische Begebenheiten aus dem Favela-Alltag bis hin zu Mord und Totschlag nachstellen, mit Gangstern, Polizisten, Junkies und Prostituierten. Bei den Theaterproben entdeckten Zeitungsreporter Polizisten in Zivil. „Befreundete Polizeibeamte haben uns geraten, ein paar Änderungen vorzunehmen“, gab der Leiter der Samabaschule zu. Statt „Militärpolizisten“ in Aktion werden heute Abend Kinder eingesetzt, die Blumen verteilen.

Die kaum verhüllte Zensur ist ein Armutszeugnis für Rios Landesregierung. Im vergangenen Jahr hatte Governeur Anthony Garotinho vor der Korruption in der Polizeispitze die Segel gestrichen und seinen reformfreudigen Sicherheitskoordinator Luiz Eduardo Soares entlassen. Der ehrgeizige Evangelikale Garotinho hat gute Chancen, von der kleinen Mitte-links-Partei PSB als Präsidentschaftskandidat nominiert zu werden. Die Favela-BewohnerInnen stehen derweil wie eh und je im Kreuzfeuer zwischen Drogenmafia und Polizei.

Revolutionen stehen in Brasilien nicht bevor, so weit hat Vargas Llosa Recht. Aber immer mehr BrasilianerInnen wünschen sich Regierende, die ihre Sorgen ernst nehmen – während des Karnevals und danach.

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