: Romantik in Tüten
■ Bea Schlingelhoff erzählt in der Galerie für Gegenwartskunst eine Geschichte aus längst vergangenen Zeiten: 54 KünstlerInnen verleihen Kunst, um sie nicht zu verkaufen
„Nettoeinkommen pro 2001“ ist eine famose Software. Wer zum Beispiel nicht weiß, ob er den Bund fürs Leben schließen soll, gibt in die „Nettoeinkommen pro 2001“-Suchmaske sein Bruttomonatslohn ein, klickt spaßeshalber die Steuerklasse für Eheleute an und lässt dann das Programm den möglichen Nettolohn für Ex-Ledige errechnen. Diese Zahl vergleicht man anschließend mit dem eigenen aktuellen Single-Lohnstreifen und fällt hernach sofort in Ohnmacht – oder kauft flugs eine Packung Pralinen für den abendlichen Heiratsantrag, den „Nettoeinkommen pro 2001“ dringlichst empfiehlt. So romantisch kann die Liebe sein.
Tief in uns aber schlummert der Gedanke, Liebe könnte auch etwas anderes sein: Eine reine, zarte Emotion, ein Zustand zweckfreien gegenseitigen Wohlgefallens, ein hehres Gefühl jenseits der Steuerklassen I-V. Romantischer Unsinn im Zeitalter der Ware, gewiss, aber dennoch: romantisch. Ganz so wie der Glaube von Bea Schlingelhoff, eine wirkliche Künstlerin müsse sich nicht um Geld kümmern, sondern um Kunst, müsse nicht verkaufbare Objekte herstellen, sondern reine Dinge, die uns Menschen klüger, sensibler, nachdenklicher stimmen.
„Ars Moralis“, ihre derzeit in der Galerie für Gegenwartskunst zu sehende Ausstellung, ist ein geradezu trotzig-naiver Versuch, der D-Mark-Kultur die Stirn zu bieten. 54 KünstlerInnen aus Bremen und dem bis nach Rejkiavik und Los Angeles reichenden Umzu hat die 29-Jährige in den Räumen der Galeristin Barbara Claassen-Schmal versammelt, um dort dem Gedanken zu frönen, dass Kunst und Kommerz nur den Anfangsbuchstaben gemein haben. Folgerichtig ist „Ars Moralis“ keine Verkaufs-, sondern eine Verleihausstellung. Wer will, nimmt sich kostenlos eine Tüte Kunstwerke mit nach Hause, verlebt daheim fünf ereignisreiche Tage mit ihnen und stellt sie anschließend wieder ins Galerieregal.
Schlingelhoffs Konzeptidee verströmt den leicht staubigen Charme der 60er und 70er: Für einen Moment sollen die Marktmechanismen im Kaufhaus Kunstgalerie ihre Geltung verlieren, für einen Augenblick soll Kunst bloß der Kommunikation zwischen Menschen und nicht der zwischen Anbietern und Nachfragern dienen. Schlingelhoffs Rückgriff in die sozialliberale Ära der Kunstgeschichte geht noch einen Schritt weiter. In einem zweiten Raum der Galerie haben die KünstlerInnen so genannte Referenzmaterialien ausgestellt, um transparent zu machen, welche Objekte und Ideen für ihre Kunstwerke Pate standen.
Natürlich – wir sind ja inzwischen in einem anderen Jahrtausend – bleibt dieser Versuch der Demokratisierung des Kunstentstehungsprozesses selbst nicht frei von ironischen Verwirrspielen. Doch alles in allem meinen es Schlingelhoff und die von ihr ausgewählten KünstlerInnen ernst mit ihrer Sehnsucht nach dem ganz anderen als dem, was den Kunstmarkt im Innersten zusammenhält.
Wer sich seinen Heiratsantrag von „Nettoeinkommen pro 2001“ diktieren lässt, findet sowas sicherlich ausschließlich peinlich, naiv, altbacken und doof. Andere hingegen finden das peinlich, naiv, altbacken – aber auch romantisch. Damit ist man nicht allein auf der Welt. Barbara Claassen-Schmal erzählt, dass selbst HamburgerInnen angereist sind, um sich die von Jennifer Liu aus US-Bibliotheken geklauten Bücher auszuleihen, um auf dem heimischen Wohnzimmerteppich Tobias Langes 25 Todesmönche aus Dachau im Hakenkreuzformat anzuordnen oder um sich Olaf Schultz' Videocassette zu borgen, auf der zwei große Nasen miteinander Ball spielen und dabei ab und zu popeln. Und, wer weiß, wer erst einmal Jennifer Sindons roten Strickpullover überzieht und dabei wie versprochen das Küssen lernt, dem wird womöglich bald die ganze Welt in einem anderen Licht erscheinen. „Nettoeinkommen pro 2001“ – verpiss dich! zott
Bis zum 23. März in der Galerie für Gegenwartskunst (Bleicherstr. 55) zu sehen. Infos: Tel.: 70 21 39
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