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Kränkender Zweifel

Vor den Vätern denken die Söhne: Mit Altmeister Dieter Henrich diskutierten Rainer Forst und Dieter Thomä, was der Turnschuhgeneration unserer Philosophen Eigenheit und Gegenwart sichern kann

von MARTIN BAUER

Man könnte meinen, Dieter Henrich, emeritierter Ordinarius für Philosophie in München, sei Friedrich Merz schon vor einigen Jahren zuvorgekommen. In Sorge um die Zukunft der Philosophie hatte er sich 1996 im „Merkur“ mit Überlegungen zu Wort gemeldet, die nach den historischen Bestandsvoraussetzungen deutschen Philosophierens fragten. Doch war es Henrich mit seinen Betrachtungen zum Abgang einer Generation akademischer Lehrer, die Mitte der Zwanzigerjahre geboren wurde, nicht um konservative Ermittlungen zum Stichwort deutscher Leitkultur gegangen.

Tatsächlich wollte das Generationsprofil solcher Köpfe wie Hans Blumenberg, Jürgen Habermas, Robert Spaemann oder Michael Theunissen die Vitalität eines bestimmten Traditionsstranges philosophischer Kultur erkunden. Näherhin untersuchte Henrich die Chancen einer Stilform deutscher Philosophie, der er als herausragender Interpret des idealistischen Dreigestirns Kant, Fichte, Hegel neue Glaubwürdigkeit und internationale Anerkennung verschafft hatte. Ihn interessierten die komplexen Motivationslagen seiner Generation, ihre gleichsam außerphilosophischen Gründe dafür, sich die lebenslange Anstrengung zuzumuten, „eine Verständigungsweise aus neuem Einsatz“ zu konzipieren.

Dabei lag für den um Selbstvergewisserung bemühten Philosophen auf der Hand, dass unter seinem Fragehorizont nicht einfach persönliche Bildungsgeschichten zu rekapitulieren, sondern (lebens-)geschichtliche Erfahrungen als Quelle begrifflicher Kreativität auszuweisen waren. So musste sich Henrich in einem zweiten Schritt seiner Phänomenologie des philosophischen Nachkriegsbewusstseins auch die Frage vorlegen, welche Not die nun nachfolgende Generation würde denken lehren. Dabei klang ein diese Jahrgänge kränkender Zweifel an, der mutmaßte, den ins Wirtschaftswunder Hineingeborenen fehlten „womöglich die Verletzungen und Herausforderungen, die beharrlich und energisch nach einer selbstständig erworbenen Verständigungsart suchen lassen“.

Die Vermutung, dass der Turnschuhgeneration ein harter Aufprall auf dem Pflaster der Wirklichkeit erspart geblieben sei, dass sie im Lauf zu sich selbst wendig und weltläufig, unter Umständen aber unambitioniert und epigonal geworden sei, spielte bei der jüngst anberaumten Podiumsdiskussion „Zur Zukunft der deutschen Philosophie“ keine Rolle mehr. Damit war der entzündliche Nerv, den Henrichs Anatomie herauspräpariert hatte, zumindest für den Gang der abendlichen Debatte betäubt. Zu ihr hatte Susan Neimann, Direktorin des Potsdamer Einstein-Forums, geladen, und sie hatte mit Rainer Forst, Hochschulassistent in Frankfurt, und Dieter Thomä, Professor in St. Gallen, zwei Diskutanten gewonnen, die das Gespräch mit dem Emeritus ganz ungekränkt beginnen konnten.

Motive eigener Arbeit

Beide waren mit ihm der Überzeugung, dass die Frage nach den „objektiven Möglichkeiten“ deutschen Philosophierens legitim und bedeutsam sei. Was die Repräsentanten zukünftigen Philosophierens allerdings schuldig blieben, war ein dem Henrich’schen Einsatz komplementäres Selbstporträt ihrer Generation. So war weder bei Thomä noch bei Forst von außerphilosophischen Motiven eigener Arbeit die Rede. Eine Folge solchen Beschweigens war die verblüffend selbstverständliche Konzentration des Gesprächs nicht auf den Welt-, sondern auf den Schulbegriff von Philosophie. Sie trat primär als akademische Disziplin ins Blickfeld, obwohl Dieter Henrich bei seinen ursprünglichen Erwägungen anderes im Auge hatte.

Die Montur eines rückwärtsgewandten Propheten wollte sich Dieter Thomä nicht anlegen, weil Diskontinuität seiner Überzeugung zufolge entscheidend für die Verlaufsmuster philosophischer Theoriebildung ist. Philosophie hat nicht einfach Herkunft, die ihr Zukunft sichert. Sie findet sich vielmehr in Gegenwarten vor und gewinnt eigene Zukunft in kritischem Abstoß von ihnen. Er kritisierte, dass Henrich jenen über 200 Jahre sich erstreckenden Diskussionszusammenhang, den wir abkürzend „Deutschen Idealismus“ nennen, in der Erinnerung monumentalisiert, um ihn damit zur maßstabgebenden Formation zu adeln.

Die Gegenwart aber ist eine andere. Von ihr spricht für Thomäs Verständnis, wer Gefährdungen benennt, die einerseits aus der inneren Verfassung akademischen Philosophierens datieren, andererseits auf äußere Versuchungen zurückgehen.

Als Arzt des zeitgenössischen, deutschsprachigen Philosophierens diagnostiziert er zwei Krankheiten: Zum einen „die historische Krankheit“, von der sich die universitäre Philosophie befallen zeigt, soweit sie sich in historistischer Resignation ganz auf die exegetische Verwaltung ihrer Überlieferung zurückzieht, ohne den geringsten Ehrgeiz, dem Tag zeitdiagnostisch in den Rachen zu greifen. Zum anderen „die analytische Krankheit“, die jene befällt, die womöglich im Protest gegen die nur noch sitzende Forschung hermeneutischer Traditionspflege sachorientierte Problemanalyse treiben, sich methodisch indes derart rigoros disziplinieren, dass sie zwar klar, allerdings über nichts mehr sprechen. Die Tugend begrifflicher Deutlichkeit gipfelt in einer Analytik, deren Simplifikationswut die Phänomene beseitigt, anstatt sie zu retten. Von außen findet sich Philosophie nach Thomä dort gefährdet, wo sie öffentlicher Nachfrage entspricht. So werden etwa Ethikkommissionen mit Kompetenz versorgt, Philosophie in ihrer Beratungskapazität eindrucksvoll vorgeführt – faktisch begibt sie sich in dieser Gestalt ihrer Option auf Kritik. Sie gefällt sich in einem „pflegerischen Verhältnis zur Gesellschaft“, stilisiert sich anwendungsorientiert als Legitimitätsbeschafferin.

Auch als „Bauchredner des Geistes“, als feuilletonistisch verminderte, gewissermaßen Sloterdijk’sche Offerte an undurchschaut fortlebende, metaphysische Bedürfnisse, erwirbt sich Philosophie öffentlichen Zuspruch nur um den Preis, ihre eigentlichen Potenziale zu verspielen. Die liegen für Thomä in ihrem Vermögen, weltanschauliche Eskapismen aus einem Welt- und Selbstverständnis zu rekonstruieren, das sich verfehlt.

Skepsis gegenüber der emanzipatorischen Kraft philosophischer Erkenntnis wie gegenüber einer Metaphysik, die immer schon das Ganze in den Blick nehmen wolle, sei prägend für seine Generation, bekannte Rainer Forst. Ihr sei die Philosophie als ein Aggregat multipler Denkstile begegnet, in dem transatlantische und kontinentale Traditionen nicht mehr konkurrieren, sondern koexistieren. Solche Nachbarschaften begünstigen den Traum, als dessen Verfechter Forst dann sprach. Es ist der Traum von einem gemeinsamen Vokabular der Philosophie, das die Idiome regionaler Sicht- und individueller Darstellungsweisen schließlich überformt. Es ist das Wunschbild eines Philosophierens, in dem der Blick auf die Sache den Streit der Argumente gleichsam wie von selbst schlichtet.

Was ist zeittypisch?

Es ist – kurz gesagt – die rationalistische Vision einer „mathesis universalis“, in der sich die Vernunft endlich ihrer kulturellen Einfassungen entledigt. Dass es sich um eine der ältesten Utopien abendländischer Metaphysik handelt, deutete Dieter Thomäs höfliche Frage an, was eigentlich „zeittypisch“ an Forsts Beschreibung sei. Der spitze Einwurf blieb unbeantwortet, obwohl die Antwort im Raum stand: Forst hatte für einen ent-spannten philosophischen Eklektizismus plädiert, der sich auf allen Regalen im Supermarkt globalisierter Philosophie bedient. Nachdrücklicher hätte Henrichs Bedenken, „große Philosophie“ bedürfe des artikulierten Spannungsverhältnisses zu gelebter Tradition, kaum bestätigt werden können.

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