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Kristalline Schalltürme strahlen klar

Was die Franzosen schon lange wissen: Das Mikrospektrum der Obertöne bildet die Makrostruktur wunderbarer Kompositionen. Ein Juchhei für die diesjährige Musik-Biennale, die „Musique spectrale“ in den Mittelpunkt stellt

In der französischen Musik war es schon immer der Klang selbst, dem der Status einer poetologischen Größe zufiel

Klang ist immer auch Natur, da kann der Kontext noch so kunstvoll verstrickt sein. Immer unterliegt Kunst physikalischen Gesetzen; Musik ist auch Schwingungsverhältnis und Luftwiderstand, Frequenzverdeckung und Schallpegelalgorhythmus. Die Verwissenschaftlichung der Kunst im 20. Jahrhundert verhalf auch dem Mauerblümchenfach Akustik zu neuem Glanz. Plötzlich rissen sich Komponisten um die Forschungsergebnisse der Hörpsychologie; die Werkstätten der Tonmeister, früher bescheiden mit einem Flügel und einigen Bogen Notenpapier ausgestattet, verwandelten sich in regelrechte Laboratorien.

Das Ethos, das Komponisten dabei zutage treten ließen, verriet allerdings mehr über nationale Eigenheiten, als es der nach 1945 frisch internationalisierten Neuen Musik lieb sein konnte. Für Frankreich gilt das in besonderem Maße. Hier hatte man sich seit jeher zwischen dem vermeintlichen Cantabile der italienischen und dem biederen Denken in Tonhöhen und -dauern der deutschen Musik einzurichten. Noch heute rümpft man in den hiesigen Konzertsälen gerne die Nase über die schwammigen Konturen der französischen Romantik und über die verwischten Farben der Impressionisten, schlicht weil diesen Werken der sachliche Mitteilungscharakter, der deklamierende bzw. dialogisierende Gestus abgeht.

In der französischen Musik war es schon immer der Klang selbst, dem der Status einer poetologischen Größe zufiel. Nicht von ungefähr bedeutet das französische „sonorité“, verstanden als „Sonorität“, nicht nur Klang, sondern eben auch Klangfülle.

In den 70er-Jahren erhoben zwei Komponisten den einzelnen Klang zum alleinigen Prinzip: Gérard Grisey und Tristan Murail. Anders als latent esoterische Einfühlungsexperten, die stundenlang einem einzigen Ton nachlauschten, zerlegten Grisey und Murail den Ton in seine Bestandteile, um akustische Gesetzmäßigkeiten aufzudecken. Das Spektrum der Obertöne, deren Stärke und Intervallverhältnisse gaben Konstellationen vor, die sie ihren Kompositionen zugrunde legten. Abendfüllende Stücke konnten jetzt auf der Analyse eines einzigen Posaunentons basieren, dessen Mikro-Eigenschaften zur Makrostruktur einer Partitur erhoben wurden. Die Übereinstimmung von innerem und äußerem Gestaltungsprinzip wurde nicht länger bloß gewahrt. Sie wurde zur Voraussetzung.

Das alles wäre kaum der Rede wert, hätten die Komponisten dieser „Musique spectrale“ nicht Klangbilder und Formverläufe hervorgebracht, die ihresgleichen suchen. In ihren Werken strahlen Schalltürme klar, kristallin und wie aus einem Guss. Es ist, als hätte jemand den Dreiklang neu erfunden. Ein Juchhei also für die diesjährige Musik-Biennale, die die „Musique spectrale“ zu einem Schwerpunkt der Programmgestaltung erhoben hat. Vom 9. bis zum 18. März erklingen eine ganze Reihe von spektral konzipierter Werke. Darunter die entrückten – gespenstischerweise in seinem Todesjahr 1998 komponierten – „Quarte chants pour franchir le Seuil“ („Vier Gesänge um die Schwelle zu überschreiten“) von Gérard Grisey.

Aber auch über die „Musique spectrale“ hinaus hat sich die Musik-Biennale den Werken französischer Komponisten verschrieben. Mit Pierre Boulez und Olivier Messiaen als ästhetischen Fixsternen streifen die Ensembles und Orchester durch die vergessenen Partituren früh gestorbener Komponisten: durch die scharfe, pointierte Musik von Jean Barraqué, durch zwei Klavierstücke seines Schülers Bill Hopkins oder die „Suite pour Mondrian“ (1953) von Jean-Pierre Guézec, dessen deutsche Erstaufführung das Eröffnungskonzert heute Abend kürt.

Die Musik-Biennale ist als Projekt der Berliner Festspiele die gewichtigste und finanzstärkste Neue-Musik-Veranstaltung der Stadt. Das macht sich nicht nur am Rang der Interpreten und den großzügig subventionierten Eintrittspreisen bemerkbar. Das gesamte Programm leidet insgesamt etwas unter der Angst vor mangelndem Renommee. Wer regelmäßig Festivals mit zeitgenössischer Musik besucht, weiß, dass die „Musique spectrale“ den Status einer Entdeckung vor Jahren verloren hat. Und auch das OEuvre von Jean Barraqué wurde aufgeführt und liegt mittlerweile in einer Gesamteinspielung vor.

Das ändert nichts an der Qualitätder Konzerte. Und auch die Bedeutung der zwanzig in Auftrag gegebenen Werke unter anderen von Georg Katzer, Pascal Dusapin und Brice Pauset scheint vorab gesichert. Aber es lässt fragen, ob die künstlerische Leiterin Heike Hoffmann samt Programmbeirat, die KomponistInnen Klaus Huber und Isabel Mundry, nicht doch zu sehr das Comme-il-faut der gegenwärtigen Festivalkultur kopiert haben.

BJÖRN GOTTSTEIN

Informationen zum Programm unter (0 30) 25 48 90 oder www.berlinerfestspiele.de

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