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Lesumer Sensation

■ Hans-Dieter Renken ist auf einer „A-Stelle“ neuer Kantor in Lesum. Jetzt hat er Bachs „Matthäus-Passion“ einstudiert. Das war 1A

Seit Sommer vergangenen Jahres ist als Nachfolger von Günter Koller Hans-Dieter Renken Kantor an der St. Martini Kirche in Lesum. Er hat eine A-Stelle, wie es in der evangelischen Kirche so schön heißt – „A“ ist die höchstqualifizierte Kirchenmusikposition, die auf der Anzahl der Gemeindemitglieder beruht. Hans-Dieter Renken wechselte damit von der kleinen Kirche in Aumund und ist zunächst einmal ganz begeistert „über das große Interesse, das selbst kleinsten Kammermusikkonzerten hier entgegenschlägt“. Auch der Chor ist sehr viel größer geworden, es sind SängerInnen aus Aumund mitgekommen, es sind neue aus Lesum dazugekommen. Was dieser Chor leisten kann, war nun auf beglückende Weise zu erfahren in einer gut dreistündigen ohne Einbruch spannenden Wiedergabe der Bach'schen Matthäus-Passion.

Es ist eine von drei großen Aufführungen in diesem Frühjahr, und man fragt sich schon, warum sich die MusikerInnen nicht absprechen. Auf der anderen Seite haben die interpretatorischen Unterschiede gerade bei diesem Werk solche Dimensionen, dass sie miteinander kaum verglichen werden können. Renken arbeitet streng an den historischen Voraussetzungen aus der Aufführungspraxis. Und hier ist eine Entdeckung zu melden, die einer kleinen Sensation gleichkommt: das erst letztes Jahr gegründete Orchester „Bremer Ratsmusik“, in dem viele AbsolventInnen der hiesigen Musikhochschule, bzw. ehemaligen Akademie für Alte Musik zusammengekommen sind. Die klangfarbliche Schönheit der alten Instrumente – einmal abgesehen von ihrer symbolischen Bedeutung in Bachs Passion wie der Oboe da caccia als Wächterinstrument, der Traversflöte als Instrument der Liebe, der Blockflöte als Symbol der Schwäche – und die geistige Dimension der rhetorisch fundierten Spielweise kann von dem grob-sinfonischen Ansatz aus der Oratorientradition des neunzehnten Jahrhunderts nicht ersetzt werden. Und wenn dann noch so perfekt gespielt wird wie hier, erst recht. Renken hatte sehr richtig zwei Orchester aufgestellt, dazu die deutlich getrennten Chöre, dazwischen die SolistInnen.

Der dramaturgischen Grundkonzeption des Werkes, nämlich der Vierteilung in den Erzählbericht des Evangelisten, den als subjekive Reaktion gedachten, betrachtenden Arien, den großen Volkschören und endlich dem protestantischen Choral, wurde Renken souverän gerecht. Mit hohem Tempo wurde die dramatische Geschichte vom Tod Jesu erzählt: Hier ist der Evangelist Andreas Post zu nennen, der eine wunderbare Mitte fand zwischen klarer Erzählung und Betroffenheit ohne jegliche Sentimentalität. Von diesem Sänger möchte man schnell wieder etwas hören. Zwischen den gut bewältigten „Kreuzige“-Chören absoluter Stillstand: „Aus Liebe will mein Heiland sterben“. Friederike Hansmeier sehr schön, leider mit einer Reihe metallisch herausgeknallten Tönen. Der Jesus von Michael Humann erklang mit sicherem Geschmack, und der Altus von Meinderd Zwart und der Bass von Matthias Gerchen konnten sich in dieser inspirierten Aufführung unvergleichlich steigern.

Die zügige Kraft der Turba-Chöre und vor allem die spontan wirkende Direktheit der Choräle erinnerten mich an die Rede, die der Kulturtheoretiker Ivan Nagel auch als Antwort auf Martin Walser zur Eröffnung der Wehrmachtsausstellung gehalten hat: Da nämlich führte er, der Jude, aus, wie sehr ihn von Kindheit an die Bach'sche Matthäus-Passion betroffen hat. Der Choral, sagt Nagel, ist „Antwort der Gefühle und Gedanken der Heutigen“, „Antwort auf eine Provokation der Vergangenheit“, das „großartigste Kollektiv, das je zu Musik geworden ist“. Es ist nicht das geringste Verdienst dieser begeistert aufgenommenen Aufführung, dass sie in der Lage war, aus unserer traditionellen 2000 Jahre alten Karfreitagsgeschichte nicht nur ein religiöses, sondern ein aktuelles politisches Tableau zu entwerfen. Ute Schalz-Laurenze

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