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Am Schauplatz des Verbrechens

aus Port Harcourt HAKEEM JIMO

Der Galgen steht immer noch da. Der Strick mit der Schlinge schaukelt, wenn sich doch einmal ein Luftzug in die stickigen Gefängnisbauten von Port Harcourt verirrt. Aber seit dem Schicksalstag im November vor über fünf Jahren wurde hier kein zum Tode Verurteilter mehr aufgehängt. Und auch an jenem 10. November 1995 musste eigens ein Henker aus der rund 1.000 Kilometer entfernten Wüstenstadt Sokoto eingeflogen werden, weil keiner im Mündungsdelta des Niger die unheilvolle Aufgabe übernehmen wollte: das Vollstrecken des Todesurteils an dem Schriftsteller, Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten Ken Saro-Wiwa und acht seiner Mitstreiter vom Volk der Ogoni.

Wie damals fließen heute Tränen. Die Tränen derer, die der Exekution von ihren Gefängniszellen aus zugesehen haben und heute als Zeugen wieder an diesem Ort sind, und die Tränen derer, die die Menschenrechtsverletzungen nigerianischer Unrechtsregime untersuchen. Gemeinsam sehen sie sich die Schauplätze der Verbrechen von Nigerias Militärdiktatoren mit eigenen Augen an – wie an diesem Tag das Gefängnis von Port Harcourt im Nigerdelta.

In den 33 Jahren von 1966 bis 1999 regierte das Militär Nigeria fast ständig, von kurzen Unterbrechungen von insgesamt fünf Jahren abgesehen. Sechs Militärregime erlebte das Land, als Höhepunkt die Schreckensherrschaft von General Sani Abacha von 1993 bis 1998. Seit dem Ende der Militärherrschaft im Mai 1999 und dem Amtsantritt einer gewählten Regierung unter dem zum Demokraten geläuterten ehemaligen Militärherrscher Olusegun Obasanjo beginnt Nigeria, die Diktatur aufzuarbeiten.

Unter Vorsitz von Richter Chukwudifu Oputa wurde am 14. Juni 1999 die „Human Rights Violations Investigation Commission“ gegründet, um Licht in die dunklen Perioden der nigerianischen Geschichte zu bringen – in eine Zeit, in der das Militär den rund 120 Millionen Nigerianern ein Willkürregime nach dem anderen aufnötigte und die Wirtschaft durch das Primat der Korruption ruinierte.

Die Kommission versteht sich als Wahrheitskommission nach südafrikanischem Vorbild. „Wir wollen keine Hexenjagd. Die Kommission will traumatisierten Opfern eine Chance geben, ihre Erlebnisse und Qualen zu bewältigen, und Tätern ein Forum bieten, um Reue zu zeigen“, sagt Richter Oputa.

Aber die Arbeit ist nur stockend in Gang gekommen. Finanzielle Probleme verhinderten immer wieder ihren Beginn. Erst im Oktober letzten Jahres konnte die Kommission endlich ihre Arbeit aufnehmen, nachdem unter anderem Hilfe der US-amerikanischen Ford Foundation eintraf. Drei Anhörungsperioden hat es bisher gegeben, eine erste in der Hauptstadt Buja, eine im Dezember 2000 in Nigerias größter Stadt Lagos, wo es um einige der spektakulärsten politischen Morde der Militärs ging, und eine im Januar in Port Harcourt zur Aufklärung der Unterdrückung der Bewohner der Ölfördergebiete Nigerias.

Diese Woche hat eine vierte Anhörungszeit in Kano begonnen, der größten Stadt des muslimischen Nordens. Dabei geht es zunächst um verschwundene Regimegegner aus der Abacha-Diktatur. Die nächste Sitzung soll es im Osten Nigerias geben, wo Nigerias Armee von 1966 bis 1969 den Sezessionsstaat „Biafra“ niederkämpfte. Über eine Million Angehörige des Igbo-Volkes kamen damals ums Leben.

Das Anliegen der Oputa-Jury wird von den meisten Nigerianern grundsätzlich befürwortet. Doch bei der praktischen Umsetzung schlägt ihr Skepsis entgegen. Das begann bereits bei der Auswahl der Fälle, die untersucht werden sollen. „Wie kommt es, dass nur 200 von insgesamt über 10.000 Petitionen akzeptiert wurden?“, fragt sich Omolade Adunbi von Nigerias ältester Menschenrechtsgruppe „Civil Liberties Organisation“ (CLO). „Und bei diesen 200 Anträgen handelt es sich größtenteils um Petitionen einflussreicher Nigerianer. Anhörungen etwa zu der Zerstörung eines Armenviertels in Lagos im Zusammenhang mit Bauspekulationen wurden im letzten Moment abgesagt, ohne Begründung oder Absprache mit den Betroffenen.“

In Port Harcourt wird deutlich: Es wird keine Versöhnung mit den Handlangern der Unrechtsregime geben – allen voran Oberst Paul Okuntimo und Oberst Dauda Musa Komo. Keiner der angereisten Angehörigen des Ogoni-Volkes sieht auch nur ein Anzeichen von Reue bei den Offizieren, die in der Abacha-Zeit für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich waren.

Im neuen Kulturzentrum an der Aba Road im Herzen Port Harcourts drängen sich an diesem Tag Farmer und Fischer aus dem ölverseuchten Ogoni-Land auf dem Boden zwischen den Sitzreihen. Sie wollen ihren Peiniger endlich einmal aus der Nähe betrachten. Unbeeindruckt von den Vergewaltigungszeugnissen eines Dutzend von Ogoni-Frauen tritt Oberst Okuntimo in einem traditionellen Gewand der Ogoni-Ältesten auf.

Okuntimo, den viele als personifizierte Heimsuchung der Ogoni sehen, stellt sich als Retter der eine halbe Million zählenden Minderheit dar. Er bemüht Psalm 118, Vers sieben und dankt Gott, dass er noch die Chance habe, Zeugnis abzulegen. Aber seine Stellungnahme wird mehrmals von „Killer“-Rufen gestört. In den Zeitungen wird es später heißen, Okuntimo sei einem Lynchmord nur entkommen, indem er durch den Hinterausgang floh. Auch von Ex-Militärgouverneur Komo, dem Ogoni-Zeugen vorwerfen, die Erhängung Ken Saro-Wiwas persönlich überwacht zu haben, kommt an diesem Tag in Port Harcourt kein Wort der Reue.

In Lagos arteten die Sitzungen der Oputa-Kommission zu einem Publikumsspektakel aus. Im alten Senatsgebäude der früheren Hauptstadt Nigerias belegten Journalisten und Schaulustige jeden Platz. Richter Oputa konnte nur mit Mühe die Ordnung aufrechterhalten. Regelmäßig störte das Publikum mit Gelächter, Buhrufen oder Diskussionen die Anhörungen. Kommentatoren sprachen von einer täglichen Talkshow, live übertragen von Rundfunk und TV.

Unumstrittene Hauptfigur des Schauspiels von Lagos war Exmajor Hamza al-Mustapha, der frühere Sicherheitschef von Diktator Abacha. Al-Mustapha sollte Einblicke in das Herrschaftssystem des skrupellosesten der nigerianischen Militärherrscher geben. Trotz seines niedrigen Ranges galt al-Mustapha faktisch als Nummer zwei des Regimes. Al-Mustapha bestimmte, wer ein Sicherheitsrisiko war und wer nicht. Seine Macht wurde besonders deutlich in einer Videosequenz dargestellt, die er der Kommission vorspielte. Darauf flehen zwei Generäle, die des Putschversuchs beschuldigt wurden, al-Mustapha auf Knien um ihr Leben an.

Al-Mustapha baute sich eine eigene Garde auf. Daneben stellte er ein Killerkommando zusammen, das unter anderem Kudirat Abiola ermordete, die Ehefrau Moshood Abiolas, des Siegers der vom Militär annullierten Präsidentschaftswahl von 1993. Abiola selbst starb 1998 in der Haft.

Seine Verantwortung für Mord und Terror brauchte al-Mustapha gar nicht mehr zuzugeben. Das hatten vor ihm schon Angehörige seines Mordkommandos getan. Für Aufsehen sorgte dagegen seine Behauptung, General Abacha und Moshood Abiola seien beide vergiftet worden.

So redewillig wie al-Mustapha sind die wenigsten Zeugen. Entweder werden die Anschuldigungen bestritten oder nur vage zugegeben. So sagte der Ex-Assistent des Polizeipräsidenten von Lagos, Zakari Biu, dass er es bedauern würde, sollte er der Journalistin Chris Anyanwu Leid zugefügt haben. Trotz ihres ausgestochenen Auges vergab die Journalistin ihrem Peiniger und umarmte ihn sogar – eine der wenigen Versöhnungen.

Die Unterstützung der Regierung für den Versöhnungsprozess wirkt halbherzig. Omolade Adunbi von CLO erklärt sich das damit, dass Präsident Obasanjo ursprünglich vorhatte, nur die Regierungszeit des Despoten Abacha untersuchen zu lassen. „Doch dann wuchs der Druck, dass auch Menschenrechtsverletzungen in der Zeit davor untersucht werden müssten“, sagt Adunbi. „Plötzlich sah sich Obasanjo selber in der Schusslinie, weil er Ende der Siebzigerjahre Militärmachthaber war und auch Leichen im Keller hat.“

Jetzt befindet sich Obasanjo in der prekären Situation, dass er einerseits als Zeuge für die an ihm verübten Menschenrechtsverletzungen während seiner Gefangenschaft unter Abacha auftreten wird, andererseits aber selber zum Angeklagten zu werden droht, weil auch in seiner Zeit als Militärmachthaber von 1976 bis 1979 Menschenrechte verletzt wurden. So wurde während seiner Herrschaft die Mutter des Musikers Fela Kuti getötet – von „unbekannten Soldaten“, wie es später in einem Bericht hieß.

Inwieweit die Wahrheitskommission in Nigeria die erhoffte Versöhnung bringt, weiß auch Kommissionsmitglied Bala Ngilari nicht. „Ob Versöhnung oder nicht, wichtig ist auf jeden Fall jetzt, dass alles dokumentiert wird“, sagt Rechtsanwalt Ngilari. Den greisen Vater des ermordeten Ken Saro-Wiwa trösten solche Worte nicht. Bei einem Besuch der Jury in seinem Haus im Ogoni-Land sagte Jim Wiwa: „Was wollen Sie von mir. Mein Sohn ist tot, und ich bin traurig.“

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