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Gegen die „Anderen“

betr.: Journalismus hat einen Toleranzauftrag

[...] Am vergangenen Dienstag überraschten uns die deutschen Tageszeitungen mit der traurigen Nachricht, dass ein Familienvater aus Schwarzenbruck/Nürnberg seine Ehefrau und die gemeinsamen beiden Söhne ermordet habe. Diese Nachricht, so dramatisch sie auch sein mag, stand, kurz und bündig referiert, in den hinteren Teilen aller Zeitungen. Einen Tag darauf stand in allen Zeitungen die Nachricht von der „Entführung“ von vier deutschen Touristen in Ägypten durch einen irrationalen, einheimischen Reiseleiter, der die Rückkehr seiner Kinder von der deutschen geschiedenen Ehefrau erzwingen wollte. Diese Nachricht stand auf den ersten Seiten. Und sie stand an herausragenden Stellen.

Der Entführer bewegt sich in einem grotesken Kreis: Er weiß um den Wert des Menschenlebens der eigenen Kinder, und dennoch erweckt er den Eindruck, er könne eine Gefährdung für Menschenleben sein. Von einem solchen „Entführer“ geht keinerlei Gefahr aus, egal wie lange diese Situation dauert. Und sie wird bestimmt nicht allzu lange dauern. Von ranghöchster Stelle aus Ägypten verlautete zudem, dass das Leben der vier deutschen Männer „Priorität“ habe. In einem solchen Fall kann ernsthaft keine Rede von einem „Geiseldrama“ sein. [. . .]

Dennoch haben die deutschen Tageszeitungen allein durch die Positionierung der Nachricht auf den ersten Seiten und an herausragenden Stellen den Eindruck erweckt, es gäbe ein Geiseldrama, das die ganze Nation aufwühlen solle. Damit schossen deutsche Zeitungen in diesem Fall im Vergleich zu dem Fall aus Schwarzenbruck deutlich über den „bloßen Bericht“ hinaus: Allein durch die Art der Positionierung der Nachricht lieferten sie einen Kommentar mit, der in der Luft hängt und sehr subtil ist. Dass diese Art der Berichterstattung quer durch alle Zeitungen geht, spricht für das Vorhandensein einer „stillen selbstautomatisierten Abmachung“ gegen „die Anderen“. Gegen die Väter eines deutschen Kindes. [. . .]

Der deutsche Journalismus ist der Journalismus einer Exportnation und der Journalismus in einer globalisierten Welt. Hier hat der Journalismus aufgrund des rechtsstaatlichen Auftrags auch einen klaren „Toleranzauftrag“. Durch latenten Populismus, Massenmobilisierung, unsichtbare Hetzkampagnen wird weder dieser Auftrag erfüllt noch der „journalistische Olymp“ erreicht. Und es fragt sich, wem soll das alles helfen? Mit diesen Mustern wird allein der Verlust des guten Rufes, die Preisgabe des eigenen Selbstverständnisses und die schleichende Vergiftung einer multikulturellen Gesellschaft erreicht. [. . .]

ABDEL-HAFIEZ MASSUD, Bonn

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