: Die Supergewerkschafter kommen
Die neue Großgewerkschaft Ver.di hat in Berlin rund 180.000 Mitglieder. Die Probleme blieben die alten: Immer mehr Menschen verlassen die Beschäftigtenorganisationen. Die Folge: Die Gewerkschaften müssen sparen und bauen Stellen ab
von RICHARD ROTHER
„Einen schönen guten Tag, Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, mein Name ist Müller; wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“ Wer gestern die Probe aufs Exempel machte, wurde bei der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft DAG nicht enttäuscht. Kaum war der Beschluss zur größten Gewerkschaftsfusion in der deutschen Geschichte gefasst, hatte die DAG ihr Auftreten geändert. ÖTV, HBV, Postgewerkschaft und IG Medien hingegen meldeten sich traditionell, kein Wörtchen von Ver.di.
Vielleicht liegt das daran, dass Ver.di erst im Juli wirklich, das heißt rechtsfähig, wird – mit dem Eintrag in das Vereinsregister Charlottenburg. Bis dahin müssen die rund 180.000 Berliner Mitglieder der neuen Supergewerkschaft mit einer Doppelstruktur leben. Die fünf Gewerkschaften bestehen fort, gleichzeitig wird die neue Struktur mit 13 Fachbereichen aufgebaut.
Für die einzelnen Mitglieder – etwa in Fragen des Rechtsschutzes – ändert sich wenig. „Aber sie werden sehen, dass mit der vereinten Gewerkschaft eine starke Organisation hinter ihnen steht“, sagte gestern DAG-Chef Hartmut Friedrich. Zudem könne der Service verbessert werden. Außerdem könne man effizienter arbeiten. So bräuchten zu einer Personalversammlung in einem Krankenhaus künftig nicht mehr ein ÖTV- und ein DAG-Vertreter aufzutreten. „Einer kann sich dann um Dinge kümmern, die bisher zu kurz kommen.“
Das täte Not, denn die Gewerkschaften leiden unter einem Mitgliederschwund. Jährlich verlieren sie 2 bis 3 Prozent der zahlenden Mitglieder. Die Folge ist ein Personalabbau. Zwar soll es keine fusionsbedingten Kündigungen geben, aber von den derzeit 320 Gewerkschaftsjobs in Berlin bleiben mittelfristig nur 280 übrig.
Unklar ist noch, wo der neue Landesverband residiert. Die gewerkschaftseigenen Gebäude von IG Medien, DAG und ÖTV stehen zur Verfügung. Das kürzlich sanierte ÖTV-Gebäude am Engeldamm in Mitte hat große Chancen, Hauptsitz zu werden.
Ein Grund für den Mitgliederschwund ist nach Ansicht von DAG-Chef Friedrich auch die Konkurrenz, die sich die Ver.di-Gewerkschaften bisher gegenseitig gemacht haben. Junge Leute, die sich nicht für eine Gewerkschaft entscheiden konnten, seien erst gar nicht eingetreten. „Das wird jetzt besser.“
HBV-Chef Manfred Birkhahn, der gegen Ver.di gestimmt hat, sieht das anders. Größe allein nütze nichts. „Die Gewerkschaften haben ihre Mobilisierungsfähigkeit verloren.“ So hätten sie gegen den „faulen Rentenkompromiss der Bundesregierung“ auf die Straße gehen müssen. Die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes bezeichnete der linke Gewerkschafter als „windelweichen Teebeutelaufguss“. Birkhahn: „Unter Mitbestimmung verstehe ich mehr.“
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