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Elektronik-Kinderspielzeug-Netzwerk

Begeisterte Herausgeber von Lieblingsmusik: Das Morr Music-Label im Pudel  ■ Von Sebastian Handke

Thomas Morr ist Morr Music, ein kleines Label im dritten Stock einer ziemlich heruntergekommenen Mietskaserne im Prenzlauer Berg. Die Tür öffnet ein eher zurückhaltender Typ mit obligatorischer schwarzer Hornbrille, der, wie sich herausstellen wird, ziemlich guten Kaffee macht und über eine Plattensammlung verfügt, die man als repräsentativ bezeichnen kann. Wenn er von „seiner“ Musik erzählt, kommt Thomas Morr zu keinem Ende. Er spricht mit der Begeisterung eines addicts, der schon auf der Schule, nach seiner Zukunft befragt, antwortet, er wolle beim Tonträgervertrieb Rough Trade arbeiten. Jetzt hat er sein eigenes Label.

Die Veröffentlichungen wirken wie Arbeit an der gleichen Baustelle: die Nähe zum Electronic Listening des britischen Warp-Labels ist kaum zu überhören. Auch das Artwork wird von einem befreundeten Graphiker im Sinne einer Corporate Identity gestaltet. Aber wo man einen konkreten Bauplan vermuten könnte, regiert eine simple Labelpolitik: Es muss Thomas gefallen. Die Privatheit des Geschmacks zu verbinden mit dem notwendigen Sich- nach-außen-Wenden eines Labelbetreibers ist dabei nur möglich in Zusammenarbeit mit „Geistesverwandten“. Das Umfeld, in das Thomas Morr auf diese Weise gefallen ist, rekrutiert sich aus dem erweiterten Freundeskreis. Promotion- und Repertoirearbeit beim Lümmeln in der Sitzecke: die ganze Mühe dieses „eigentlich stinklangweiligen Bürojobs“ nur für diese gemeinsamen „Euphorie-Flashs“, wenn man sich beim Erstkontakt mit der Musik sofort darin verliebt.

Die Knotenpunkte dieses Netzwerkes sind inzwischen gut dokumentiert: als zwölfte Veröffentlichung in Morrs Kleingarten war die Compilation Putting the Morr back in Morissey so etwas wie der Gründungsmythos von Morr Music: Die südenglischen Elektroniker Isan und die Weilheimer The Notwist waren Lieblingsmusik füreinander und wollten diese Zuneigung im gegenseitigen Remix materialisieren. Daraus wurde erst mal nichts, doch es brachte Thomas Morr auf die Idee, sein Privatlabel zu gründen. Ende 2000 lag das Prinzip des wechselseitigen Remix als randvollgestopfte Doppel-CD vor.

Morrs kleine Familie – Lali Puna, Isan, Tied & Tickled Trio, b. fleischmann und andere – bietet das, was man erwarten darf, wenn Jungs sich ihre Lieblingsplatten vorspielen. Kinderspielzeug zum Ab- und zum Auftauchen: Elektronikpop mit hymnischen Melodien und kleinen, irgendwie bekannten Harmoniefloskeln. Hinter jeder Ecke lauert der Wiedereintritt in die Songstruktur. Manchmal morpht es wie bei Mouse on Mars, aber mit geringerer Eigengeschwindigkeit und entspannter Ereignisdichte – verhallte Grüße von einem Ort, an dem sich Melodie und Geräusch Gute Nacht sagen. Wären sie nicht längst im Sofa versunken, würden sie sich gegenseitig auf die Schultern klopfen und zu ihrem guten Geschmack gratulieren. Man kennt und man mag sich halt.

Inzwischen hat sich die Familie erweitert. Zur zweiten Generation gehört kein Geringerer als Tim Simenon, der als Bomb the Bass zu den Elektronikern der allerersten Stunde gehörte. Seine neue Maxi Clearcut wird vermutlich auch während Morrs DJ-Set im Pudel Klub zu hören sein. Christian Kleine, der mit Thaddi Herrman die bisher schönste Morr-Platte Kickboard Girl gemacht hat, wird dabei mit seiner Mischung aus HipHop und Electronica zur Seite stehen.

Morr Music ist ein wenig erwachsen geworden: Bald steht man auch bei WOM im Regal. Kürzlich war MTV am Telefon – auf der Suche nach einer neuen Erkennungsmelodie für The Real World. Sogar Depeche Mode-Mastermind Martin Gore hat Morr auf seiner Playlist. Und auch die Berliner Mietskaserne ist inzwischen renoviert. Trotzdem ist man auf der Suche nach einem neuen Büro. Das tägliche Schleppen von mehreren hundert Platten forderte bereits den ersten Leistenbruch.

Sonntag, 22 Uhr, Pudel Klub

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