Modernes Küchenballett

Von sprechenden Waschmaschinen und anderen Staubsaugern: Die Siemenstour 2001 gewährt einen Einblick in die Zukunft des Tanztheaters

von MONIKA MIELE

Neulich besuchte ich Verwandte in Leipzig, wo meine Schwägerin Doreen in einem der zahlreichen sächsischen Haushaltsgeräteläden arbeitet. Der Zufall wollte es, dass die Firma Siemens gerade in diesen Tagen Geschäftspartner und sonstiges Fachpublikum zur Präsentationsshow der neuesten Küchengeräte eingeladen hatte. „Irgendwas beim MDR, das könnte dich doch interessieren“, meinte Doreen. Ich hatte ohnehin nichts Besseres zu tun, also fuhren wir in die neue „Mediacity“, einem sehr modern wirkenden Neubaukomplex in einem der zu drei viertel leer stehenden Stadtteile Leipzigs.

Problemlos wurde ich als Begleiterin von den beiden Empfangsdamen im Computerterminal akkreditiert. Doreen und ich hatten uns bereits durch etliche Tülltücher hindurchgekämpft, aber danach tat sich in dem verzaubert wirkenden TV-Studio tatsächlich eine andere Welt auf. Wir badeten in dem einschmeichelnden Licht und wurden bei säuselnder Musik von elegant gekleidetem und überaus kompetentem Siemens-Personal in separierten work spaces empfangen. Dort wurden Doreen von Superprofi zu Profi die Vorteile der neuesten Siemensgeräte erklärt. Ich wusste nicht immer genau, wovon gerade die Rede war, erwischte mich aber beim Nachdenken darüber, ob ich nicht auch mal endlich einen neuen Herd bräuchte.

Doreen unterbrach meine Haushaltsfantasien und drängte in die „Business Lounge“: Ein lachsfarbenes Ambiente mit stilisierter Manhattan-Skyline und einer sehr originalgetreuen Statue-of-Liberty-Kopie. Dort gab es ganz umsonst Longdrinks und Kaffee, dazu dicke Bahlsen-Kekse, auf deren Schokoladenseite liebevoll in heller Schokoladenschrift der Titel der Veranstaltung zu lesen war: „Erlebnis Innovation – Die Siemenstour 2001“.

Wir hatten kaum vom prompt servierten Mojito genippt, als ein Staubsauger auf die Bühne gebracht und sogleich wieder durch ein rotes Tülltuch geheimnisvoll verhüllt wurde. Eine sanfte Männerstimme forderte die Haushaltsgeräteprofis auf, sich „einen Platz der Sonne“ zu sichern. Dann begann eine Show, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Als Erstes wurde der Tanz um den Staubsauger geboten: Eine Tänzerin stellte mit expressiven Bewegungen dar, welche Mühe die Hausfrau früher beim Absaugen der Polster und Gardinen und Teppiche hatte, als es nur „kleine Saugkraft“ gab. Das erläuternde Dia zeigte dazu ein an der Mutterbrust saugendes Baby. Dann wurde das Tülltuch gelüftet – und der saugstarke neue Siemens-Staubstauger beflügelte die zuvor gegen heftige Widerstände agierende Dame, sie verwandelte sich in eine elfengleich schwebende Haushaltsnymphe. Wie erfüllend kann Hausarbeit doch sein, wenn nur das richtige Gerät zur Hand ist!

Dann die Waschmaschinennummer: Ein junges Paar robbte sich als chinesischer Drache unter einer apricotfarbenen Stoffplane auf die Bühne. Klar, dieses Gewand symbolisierte den Wäscheberg, gegen den eben auch Paare und Einzelpersonen zu kämpfen haben. Die beiden Tänzer freundeten sich schnell mit ihrer sympathischen Mitstreiterin auf der Bühne an: die sprechende Waschmaschine! Sie fragte die Tänzerin zum Beispiel, ob es sich bei dem Hemdchen in ihrer Hand vielleicht um eine empfindliche Seidenbluse handeln könnte? Und schwupps, wurde das entsprechende Programm auf der Leinwand eingeblendet. „Er“ tanzte diese Nummer übrigens in U-Hose, „sie“ in einer Art Negligé. Als der Waschgang startete, glitten die beiden dann forellengleich durch die perlenden Fluten und Wellen des Waschmaschinenrumpfs. Doch bald schon rief die Waschmaschine mit ihrer kecken Simme den Tanzenden zu: „Hej! Die Wäsche ist fertig.“ Der Tänzer eilte zur Maschine und rüttelte ungeduldig, darauf mahnte die kluge Helferin: „Erst entsichern, ihr seid doch keine Kinder mehr!“

Der Spaß wurde für meinen Geschmack etwas vorschnell beendet. Aber nur um die Bühne für ein Kochduell freizugeben. Für diese Nummer muss man sich die überaus raffinierte Technik vorstellen: Die Bühne war durch eine auch von hinten beleuchtete Leinwand getrennt. Ein Tanzpaar hinter der Leinwand erschien nur als Schattenriss, die Tänzer vor der Leinwand hingegen sah man in 3-D und im Vollbesitz ihrer farbigen Kostümpracht. Beim Kochduell spielte die Hinterbühne den Part des „schlechten Gewissens“, den man vielleicht noch aus seligen Lenor-Zeiten kennt. Das „schlechte Gewissen“ meinte aber in dieser Show auch die dunkle Vergangenheit, die gegen die Gegenwart antrat: in Gestalt zweier Junggesellen, die sich vor ihren Herden schwungvoll Schürzen umwanden.

Es machte „ding-dong“ an der Bühnentür – und hereingetanzt kamen die beiden Freundinnen. Hinter der Leinwand: ein schwarz-anonymer, langhaariger Schatten. Auf der Vorderbühne dagegen eine Blondine im roten Ballkleid, dazu aufgepeppte Tangomusik. Die beiden Männer kamen daraufhin an ihren Herden ganz schön ins Schwitzen, aber beim vorderen reicht es immer noch hier und da für ein paar Umarmungen zwischen dem Rühren und Schwenken. Dann hörte man „Ahs“ und „Ohs“, die beiden lächelten zufrieden, und der Herd, der auch bei dieser Nummer die Rolle des Erzählers übernahm, sagte: „Mit dem neuen ‚bratSensor‘ wird das Leben einfacher, komfortabler. Und man ist nie mehr einsam.“

Dann war die Show vorbei, und wir bekamen zum Abschied noch beide eine rosa Rose, eine Tüte voller Prospekte über die Neuheiten und ein Päckchen mit Edelaluminium-Serviettenringen in Apfel-, Birnen-, Aprikosen- und Rundform geschenkt. Dieses Siemensballett war ein Schlüsselerlebnis für mich: Zum ersten Mal im Leben hatte ich Tanztheater verstanden.