Integration und Entertainment

Kammermusikalisch swingen: Zum Tode von John Lewis, dem Pianisten und Begründer des Modern Jazz Quartet

John Lewis malte mit seiner Musik Bilder einer idealisierten Vergangenheit. In seiner Komposition „At The Horse Show“ von seinem vorletzten, 1999 erschienenen Album „Evolution“ wähnt man sich zwischen Damen mit weich schwingenden Sommerhüten über cremeweißen Kostümen und befrackten Herren, deren zylinderbesetzte Köpfe hinter Ferngläsern der bloßen Kraft des Auges nicht vertrauen. Ein gesellschaftliches Ereignis im Vorkriegsamerika. In der Zeit der Bigbands von Duke Ellington und später Dizzy Gillespie, dessen Orchester der junge John Lewis nach dem Krieg angehörte.

Mit gerade 25 Jahren arrangierte er für einen Auftritt in der Carnegie Hall die Musik des gesamten Ensembles. Ein ernster junger Mann mit großen musikalischen und technischen Fähigkeiten und einer Vision. Charlie Parker holte ihn, später Miles Davis. Schon damals spielte Lewis sparsam und minimalistisch und damit im Kontrast zur Mode der Zeit, zum Bebop. Doch im Gegensatz zu der sich schon in dieser Zeit abzeichnenden intellektuellen Abwendung von gängigen harmonischen und formalen Formen blieb Lewis „down to earth“. Sein immer bluesbetontes Spiel verschaffte ihm das Adelsprädikat des Jazz: Swing – nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Stilrichtung. John Lewis wollte keinen neuen Stil prägen, sein Antrieb war eher soziologischer Art. Schon Anfang der 50er-Jahre hatte er die Vision, die einen Wynton Marsalis heute umtreibt und die schon damals umstritten war. Er wollte den Jazz als die amerikanische Klassik etablieren – mit den Mitteln und auch Klischees, die die Vorstellung von klassischer Musik umgeben: mit Anzügen, möglichst Frack, Konzerthallen und Festivals anstelle von Clubs.

Klischee stand damit gegen Klischee. Gegen die etablierte Vorstellung vom „Straßenneger“, vom drogenabhängigen Vergewaltiger, vom „amerikanischen Untermenschen“. Zu dieser Zeit hatte der 1920 in Illinois geborene Lewis gerade sein Studium abgeschlossen, Musik und Anthropologie. Später lehrte er an verschiedenen Universitäten, auch in Harvard. Lewis stellte die Musik klassischer europäischer Komponisten, allen voran Bach, in den Jazzkontext, lange bevor andere mit ihren „Play Bach“-Reihen anfingen. Die Umsetzung erfolgte mit dem von ihm gegründeten Modern Jazz Quartet, allgemein schlicht als MJQ bezeichnet – mit 45 Jahren die Band mit dem längsten Haltbarkeitsdatum in der Geschichte des Jazz.

Das Konzept des MJQ hieß Integration: das arrangierte Solo als Teil der Komposition mit entsprechend wenig Raum für Improvisation, was bei Kritikern zu der abfälligen Bemerkung „Kammermusikjazz“ führte. 1963 hieß es in einer Konzertkritik der New York Times, John Lewis hätte den Jazz so respektabel gemacht, dass von dessen eigentlicher Substanz nichts mehr zu spüren sei. Und tatsächlich schien sich das Konzept der Integration 1974, nach 22 Jahren, erst mal erschöpft zu haben. Nicht zuletzt deswegen, weil John Lewis sich nach mehr Freiraum für sein Klavierspiel sehnte. Erst Anfang der 80er-Jahre tat sich die Band nach gelegentlichen gemeinsamen Auftritten wieder für weitere knapp 20 Jahre fest zusammen, bis sie mit dem Tod von Milt Jackson 1999 endgültig auseinander brach.

Bis zuletzt konnte John Lewis mit der Eleganz einer schimmernden Perlenkette den Raum füllen. Jetzt ist auch er, der sich selbst als „Neger vom Geiste Mozarts“ bezeichnete, in die körperlose Welt der Spirits eingegangen. Er starb am 29. März in seiner Wohnung in Manhattan an den Folgen von Prostata-Krebs.

MAXI SICKERT