: Das Lebensgefühl der 90er auf den Punkt gebracht
■ Marius Müller-Westernhagen wird vom Bundespräsidenten ausgezeichnet und vom Bundeskanzler rezensiert
Die Staatliche Pressestelle des Senates muss ihren Aufgaben ausführlich nachkommen: Auskunft geben. Die Verlage Bauer und Milchstraße haben ein Heer von aufgeregten jungen PraktikantInnen – oder RedakteurInnen – ins Rathaus geschickt, und die müssen aufgeklärt werden: Nein, ein Bundesverdienstkreuz wird nicht vom Bundeskanzler verliehen, sondern vom Bundespräsidenten. Und der Bundespräsident ist Johannes Rau und nicht Gerhard Schröder. Rau schreibt sich ohne h. Brav wird alles mitnotiert. Damit es auch ein recht hübscher Bericht wird von dem Ereignis, wenn ein „Mega-Star der deutschen Rockmusik“ (Bürgermeister Ortwin Runde) mit dem Verdienstkreuz am Bande ausgezeichnet wird. Marius Müller-Westernhagen steht im Konfirmandenanzug neben dem Bürgermeis-ter und dem Bundeskanzler, wie einer, dem gerade das Reifezeugnis ausgestellt wird, bevor man anschließend zum Abiturball bittet. Aber es ist das Verdienstkreuz.
Um ein Haar wäre das ganze Event geschrumpft zu einem Nicht-Ereignis, zu einer Veranstaltung, die pure Staffage ist, nur kurze Erwähnung findet in Form von: „Es war anlässlich der Verleihung des Verdienstkreuzes, als...“ Denn es erscheint Boris Becker, und er erscheint nicht allein. In seiner Begleitung eine dunkelhäutige Frau. Die JournalistInnen halten einen Moment kollektiv den Atem an. Selbst Literatur-Popper Benjamin von Stuckrad-Barre, der so tut, als sei er auch Journalist und mit einer Mini-Kamera durch die Gegend läuft, um das Bild anschließend wahrscheinlich auf irgendeinem Lesungsevent als „besonderes Bonbon“ für kichernde Adoleszierende an die Leinwand zu werfen, selbst jener vergisst fast eine halbe Sekunde lang, cool zu sein. Aber dann atmen alle wieder aus: Es ist die Frau von Müller-Westernhagen.
Also doch nur eine Verleihung. Becker ist zwar nicht völlig solo, aber mit ihm ist keine schöne Russin, sondern nur Ex-Thalia-Mann Jürgen Flimm. Otto Rehhagel hat heute Abend offenbar etwas anderes vor. Becker und Flimm gehen kurz noch einmal nach draußen, die PraktikantInnen stürmen hinterher: „Ist da jetzt nur Boris Becker?“ „Nee, auch Flimm.“ „Wer ist das?“ Von Michael Naumann, der nebenan steht, wird überhaupt keine Notiz genommen. Dies ist ein Abend der Kultur.
Erst spricht der Bürgermeister. Westernhagen – Runde nennt ihn „lieber Marius“ – sei „authentisch, direkt und souverän“, er trete für „ein anderes Bild von Deutschland“ ein. Den Fachvortrag hält der Bundeskanzler. Erst die übliche Schröder-Einleitung: „Wir beide wissen, woher wir kommen, und vergessen daher nicht, wohin wir gehören.“ Becker und Westernhagen nicken. Der Bundeskanzler erinnert sich genau an das „Lebensgefühl der ausgehenden 70er“, das Westernhagen auf seiner Platte „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“ und dem „provokanten Song 'Dicke'“, sowie „Lasst uns leben“ ausgedrückt habe. Dass „Lasst uns leben“ erst Jahre später auf einer anderen MMW-Platte veröffentlicht wurde, wird angesichts der profunden Kenntnisse Schröders wohlwollend ignoriert. Später, auch das weiß DJ Bundeskanzler, habe Westernhagen, „der geniale Musiker“, mit „Liedern wie ,Es geht mir gut' das Lebensgefühl der 90er auf den Punkt gebracht“, womit Schröder wohl vor allem sein eigenes Lebensgefühl meinte.
Der Geehrte sagt an diesem Abend gar nichts. Und hat sich schon damit die Ehrung redlich verdient. Peter Ahrens
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen