An Aufgeben denkt niemand

„Die Öffentlichkeit muss aufgerüttelt werden“, sagt Resit Sari, einer der Hungerstreikenden. „Und das Ausland muss der Türkei Druck machen“

aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH

Auf dem Tisch liegen Blätter, säuberlich abgeheftet, eins für jeden Tag. Am Rand eines jeden Blattes stehen fünf Namen, daneben sind einzelne Rubriken eingezeichnet: Wasser, Tee, Tabletten. Für jeden Tee, der getrunken wird, kommt ein Strich auf das Tagesblatt. Am Ende der Rubriken steht eine Zahl: 126 etwa. Das ist nicht die Anzahl der verzehrten Tees, sondern die Zahl der Tage, die der Mensch, dessen Name am Rand des Blattes steht, schon keine feste Nahrung mehr zu sich genommen hat.

Bei Resit Sari sind es bereits 126 Tage. Der 42-Jährige beteiligt sich in Istanbul zusammen mit vier Frauen außerhalb des Gefängnisses am „Todesfasten“. Obwohl seine Haare bereits weiß sind und das Gesicht unter dem roten Stirnband hager wirkt, geht es ihm vergleichsweise gut. Er kann laufen, sich bewegen oder eben auch in der kleinen Küche sitzen und mit Besuchern reden. Drei der vier hungerstreikenden Frauen dagegen sind bereits so sehr geschwächt, dass sie nicht mehr aufstehen können. Eine von ihnen, Senay Hanoglu, bekommt kaum noch mit, was um sie herum vorgeht.

Mit der Ruhe der letzten Wochen ist es seit einigen Tagen vorbei. Das kleine Haus in dem Istanbuler Viertel Kücük Armutlu, einer illegal errichteten Armensiedlung hoch in den Hügeln über dem Bosporus, ist auf einmal voller Journalisten. Ein Arte-Team filmt gerade die ausgezehrten Gesichter der Frauen, während im Nebenzimmer holländische Kollegen auf einen Interviewpartner warten. Der Anlass für das Interesse ist der Tod. Zwei junge Frauen sind in diesem Haus bereits gestorben. Sie haben sich aus Solidarität mit den 250 Gefangenen, die in türkischen Gefängnissen die Nahrungsaufnahme verweigern, zu Tode gehungert.

Das Zimmer, in dem die Frauen liegen, ist äußerst spärlich eingerichtet. Drei Betten, ein eingerahmter Spruch des alevitisch-schiitischen heiligen Imam Hüysein und einige Bilder von Angehörigen sind alles, was die Frauen um sich haben. Allerdings setzen sich öfters Freundinnen ans Bett, streicheln ihnen die Hände und erzählen, wer gerade gekommen ist und wie die Welt an ihrem Schicksal Anteil nimmt.

Auf die Frage, warum sie das machen, holt Resit Sari weit aus. Im Kern geht es ihm um die Demokratie, um die Freiheit und um ein Leben in Würde, sagt er. „Die Regierung“, meint Resit, „verwandelt das ganze Land in ein Gefängnis.“ Dagegen müsse man etwas tun. Anders als bei den Frauen, die auch deshalb hungern, weil Angehörige unter den „Todesfastern“ im Gefängnis sind, hat er keine familiären Motive. Persönliche allerdings schon. Resit wurde erst Anfang Dezember aus dem Gefängnis Ümraniye in Istanbul entlassen, kurz bevor der Knast von Militär und Polizei gestürmt wurde, um die hungerstreikenden Häftlinge in die neuen Hochsicherheitsgefängnisse zu verlegen. Draußen hat er dann den Hungerstreik, den er bereits im Gefängnis begonnen hatte, fortgesetzt.

Dabei ist er nach eigenen Angaben gar kein Mitglied der „Revolutionären Volksbefreiungspartei“ (DHKP/C), die den Hungerstreik organisiert. Vor Jahren hat er mit Freunden in Istanbul einen Stadtteilverein gegründet. Der wurde von der Polizei geschlossen und er als angebliches Mitglied einer terroristischen Vereinigung verhaftet. Er saß in Untersuchungshaft, wurde vom Gericht entlassen und Jahre später erneut verhaftet. Schließlich wurde sein Fall vom obersten Berufungsgericht als fehlerhaft eingestuft und musste erneut verhandelt werden. „Man hat sich dann auf ein Strafmaß geeinigt, das ich bereits abgesessen hatte“, erzählt er.

Resit Sari hatte eigentlich eine ganz andere Karriere vor sich. Er kommt ursprünglich vom Schwarzen Meer, ist gelernter Kapitän und hat im Tourismussektor gearbeitet, zuletzt als Manager eines Viersternehotels. Dort hat er seit seiner ersten Verhaftung keine Chance mehr, seitdem hat er sich immer stärker politisch engagiert. Jetzt wäre er notfalls auch bereit zu sterben.

Obwohl die Kameras und Journalisten angesichts der sterbenden Frauen reichlich makaber anmuten, ist dennoch Außendarstellung das Einzige, was für die „Todesfaster“ Sinn macht. „Die Öffentlichkeit, auch im Ausland, muss aufgerüttelt werden. Das Ausland muss der türkischen Regierung Druck machen“, meint Resit Sari. „Das ist das Einzige, was die Gefangenen jetzt noch retten kann.“ Und: „Die Regierung muss endlich direkt mit den Gefangenen sprechen. Keine Vermittlungsaktionen, keine Umwege mehr.“

Nach außen hin sind die Häftlinge, was ihre Forderungen betrifft, ganz eindeutig: Sie wollen die Abschaffung der neuen Gefängnisse, die Abschaffung der Antiterrorgesetze und die Auflösung der Staatssicherheitsgerichte. Außerdem die Bestrafung der Verantwortlichen für die „Massaker“ in den Gefängnissen vom Dezember. Resit Sari will nicht darüber diskutieren, ob es auch kleinere Lösungen geben könne.

Tatsächlich war man Anfang Dezember schon mal weiter. Letztlich, so berichteten Istanbuler Intellektuelle, die damals bei den Gesprächen zwischen den Gefangenen und dem Justizminister als Vermittler eingeschaltet waren, ging es vor allem darum, ob der Staat auch in den neuen Haftanstalten größere Gemeinschaftszellen akzeptieren würde. „Eine Einigung“, sagt einer, der dabei war, sei „ganz nahe“ gewesen.

Seit Dezember sind 46 Menschen in diesem Konflikt gestorben: 30 Gefangene und zwei Soldaten, als die Gefängnisse gestürmt wurden, und 14 weitere, die sich zu Tode hungerten. Im Flur des kleinen Hauses in Kücük Armutlu ist für Canan Kulaksiz und Gülsüman Dönmez, die hier verhungerten, eine Art Altar aufgebaut worden. Auf rotem Tuch unter dem Schriftzug „Sehit“ (Märtyrer) hängen ihre Fotos. Unter ihren Bildern ist Platz für die anderen im Haus, die auf keinen Fall aufgeben wollen.