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Ars Amatoria

Madame Réal, Travailleuse du Sexe

von GABRIELE GOETTLE

Griséldes Réal, Hure a. D., bis 1995 selbstständige Prostituierte. Seit 1975 engagierte Streiterin f. d. Rechte d. Huren, Gründerin u. Mitbegr. div. Organisationen, Zentren u. Netzwerke. 1929 in Lausanne geboren als älteste Tochter eines Lehrerehepaares. 1935 Einschulung in Alexandria/Ägypten, wo der Vater Direktor der Schweizer Schule war. 1936 Umzug nach Athen, dort stirbt der Vater 1937 plötzlich an einer Embolie. Er hinterlässt Gattin u. 3 Töchter. 1939 Flucht vor dem 2. Weltkrieg, Rückkehr n. Lausanne. Besuch d. altsprachl. Gymnasiums, Unterricht in Klavierspiel u. Geige. Mutter legt großen Wert auf musische, prüde u. strenge Erziehung. 1947 Studium a. d. Kunstgewerbeschule Zürich. 1949 Heirat (Kunststudent, Apothekersohn a. Genf). 1952 Geburt d. 1. Sohnes. Baldige Trennung. Erfolgr. psychologische Behandlung, neue Liebe. 1955 erster Orgasmus im Leben. Geburt einer Tochter. Rückkehr z. Ehemann, 1956 Geburt d. 2. Sohnes, Trennung. 1957 erste Liebeserfahrung m. e. Schwarzen. Lungenkrankheit, Ausbruch e. Tuberkulose, 1 Jahr Sanatoriumsaufenthalt in Montana/Kanton Wallis. 1959 Geburt d. 3. Sohnes (Vater Franzose), anschließende Lungenoperation. Rückkehr nach Genf. Neue Liebe (schwarzer Medizinstudent, Amerikaner, wg. Schizophrenie psychiatrisiert). 1961 gemeinsame Flucht nach Deutschland (zus. m. 2 Kindern, 4 und 5 J. alt). 1961, im Alter v. 32 Jahren, Erlernen d. Prostitution in Erlangen u. München. Trennung v. schwarzen Medizinstudenten wg. Gewalttätigkeit. Freundschaft zu schwarzem Sergeant d. US Army. 1962 Übersiedlung i. e. Zigeunerlager, dann Eintritt i. e. Münchner Bordell. 1963 Verhaftung u. Verurteilung zu 7 Monaten Gefängnis wegen Drogenhandels. Überführung d. Kinder i. d. Schweiz. Nach d. Haft Ausweisung aus Deutschland, Rückkehr n. Genf. Bis 1969 klandestin als Hure tätig. Schreibt ein Buch über ihr Leben als Prostituierte, es erscheint 1974 in Paris, wohin sie übersiedelte. Zwischen 1969 u. 1975 weitg. Rückzug a. d. Prostitution. Politisierung durch d. Studenten- u. Hurenbewegung. 1975 Hurenstreik in Paris, Besetzung d. Chapelle St. Bernard. Rückkehr nach Genf, Wiederaufnahme d. Prostitution als klandestine Hure. Ab 1977 Registrierung als Prostituierte, feste kleine Wohnung im Rotlichtviertel Pâguis, 17 Jahre lang tätig b. z. Eintritt i. d. Ruhestand Dezember 1995. Einladungen zu div. Hurenkongressen, Referentin u. Vertreterin ihres Landes, u. a. 1985 Amsterdam, 1986 Belgien, 1989 USA, 2000 Berlin u. Marseille. Verfasserin zahlreicher Referate u. Aufrufe, Autorin von „Le noir est une couleur“. Aufbau eines Hurenarchivs. Madame Réal ist geschieden, hat 4 Kinder v. 3 Männern, war 11-mal schwanger.

Schaut man in älteren und neueren Wörterbüchern unter dem Stichwort „Prostitution“ nach, fällt eine meist ungenaue und ideologisierende Worterklärung auf. Statt der Herkunft aus dem Latein (prostituo – preisgeben; prostitutus; prostibulum – öffentliche Hure) finden sich Formulierungen wie: Beschimpfung, Schändung, besonders das unzüchtige Leben der Dirnen, ihr Gewerbe; sich herabwürdigen, öffentlich preisgeben, bloßstellen; jemanden oder etwas für minderwertige Zwecke benutzen und dadurch seiner Würde berauben, gewerbsmäßige Unzucht. Die lateinische Form intendiert nichts davon, denn im alten Rom waren die Prostituierten angesehene und als Tempelhuren sogar heilige Frauen. Römische Frauen aus den höchsten Gesellschaftsschichten prostituierten sich im Tempel der Juno Sospita, um Offenbarungen zu erhalten. In den Tempeln der Aphrodite und an zahllosen anderen heiligen Stätten Griechenlands zelebrierten Tausende von heiligen Huren ihr Gewerbe. Hetären, musisch und intellektuell gebildete Huren, waren im hellenistischen Griechenland rechtlich und politisch den freien Männern gleichgestellt – ganz im Gegensatz zu den Gattinnen.

Weibliche (und auch männliche) Prostitution war natürlich auch in den altorientalischen Kulturen weit verbreitet. Huris, die tanzenden Wächterinnen oder Gebieterinnen der Stunde, die, wie auch die griechischen Horae (göttliche Huren), die Stunden der Nacht und das ewige Feuer des Herdes tanzend bewachten, bildeten sozusagen das heilige, mütterlich ordnende Prinzip. Mit dieser sakralen und auch profanen Bedeutung der Prostitution hat das siegreiche Christentum rigoros Schluss gemacht. Es entkleidete die Hure ihrer spirituellen Funktion und gab sie weitgehender Schutzlosigkeit preis.

Ein Zeugnis aus dem 17. Jahrhundert (vom Kanonikus v. Riez) bebildert anschaulich den Aufwand, den man trieb: „[. . .] die leichten Frauen, sie sollen in Armen halten einen Drachen grausamster Art, der von Feuern lodert [. . .] und der ihre Füße und Arme mit seinem Schlangenschwanz bindet und fesselt und ihren ganzen Körper mit seinen grässlichen Klauen umklammert, der sein geiferndes und stinkendes Maul auf ihres drückt, ihnen lodernde Flammen und Schwefel und Gift und Galle einhaucht, der mit seiner rotzigen und scheußlichen Nase, seinen giftigen und stinkenden Atem in ihre haucht [. . .], dieser Drache soll sie erleiden lassen tausend Folterqualen, tausend Koliken und bittere Windungen des Bauches, und alle Verdammten sollen heulen und die Teufel mit ihnen: ‚Seht, die Buhlerin! Seht, die Dirne! Lasst sie wahrlich Folterqualen leiden! Auf sie, ihr Teufel! Auf sie, ihr Dämonen! Auf sie, ihr Furien der Hölle! Seht die Hure! Seht die Wollüstige! Stürzt euch auf diese Dirne und lasst an ihr alle Folterqualen aus, die euch zu Gebote stehen!“ Hinter diesem schäumenden Hass scheint noch etwas anderes zu rumoren, die Angst der herrschenden Patriarchen vor der sinnlichen und reproduktionsfähigen Macht der Frau, vor den weiblichen Mysterien. Heute, fast 400 Jahre später, tut man immer noch das Zu-Gebote-Stehende, um Dirnen, Frauen, die sexuelle Handlungen verkaufen, niederzuhalten. Zwar ist die Prostitution nicht verboten, sie wird aber durch altbewährte Gesetze auf verschiedenste Weise beschränkt, in die Illegalität gezwungen und kriminalisiert.

In Deutschland dürfen sich Huren nicht mit anderen zu einem Arbeitskollektiv zusammenschließen. Prostitution gilt immer noch als sittenwidrig, weit entfernt davon, als Berufsarbeit anerkannt zu werden. Insofern können Huren auch keine Arbeitsverträge abschließen, was zu weitgehender Rechtlosigkeit führt, denn die meisten Huren sind in Bars, Bordellen und Wohnung abhängig beschäftigt. Aber auch wer selbstständig arbeitet, unterliegt denselben Gesetzen. Huren müssen zwar Steuern zahlen, die der Staat akribisch eintreibt, bis hin zum Betrugsverfahren bei falschen Angaben, es dürfen aber keine Sozialabgaben entrichtet werden. Keine Krankenversicherung, keine Arbeitslosen- und Unfallversicherung, keine Renten- und Pflegeversicherung kann also in Anspruch genommen werden. Huren können in Deutschland auch keine Krankenversicherung unter dieser Berufsangabe abschließen.

Das sind nur einige der unterjochenden Vorschriften. Den Kampf der Huren um die vorenthaltenen Rechte behindert auch nach wie vor die Doppelmoral der Männer. Was Shakespeares König Lear ausruft: „Geißelst du die Hure? Peitsch dich selbst! / Dich lüstet heiß, mit ihr zu tun, wofür dein Arm sie stäupt“, gilt auch für unsere politische Führungsriege, für die zahlreichen Abgeordneten, die am Tage verurteilen und verdrängen, was sie nachts genossen haben. Einige Huren erinnern immer wieder öffentlich und lautstark daran. Griséldes Réal ist eine von ihnen. Sie ist heute eine der Vertreterinnen der internationalen Hurenbewegung. Sie nahm bereits am Hurenstreik und der Kirchenbesetzung 1975 in Paris teil und hat seither einen nicht unerheblichen Teil ihres Geldes und ihrer Arbeitskraft in diese politische Arbeit und ihre Dokumentation gesteckt. Wir lernten sie auf dem Hurenkongress im Juni 2000 in Berlin kennen und besuchten sie Anfang März 2001 in Genf.

Madame Réal lebt in Pâguis, mitten im Rotlichtviertel von Genf, zentral zwischen Hauptbahnhof und dem Quai du Mont Blanc, an dem, mit Blick auf den Genfer See, das Grand Casino liegt und diverse zweitklassige Luxushotels wie das Beau-Rivage. Das Viertel wirkt tagsüber geradezu beschaulich inmitten dieser sehr quirligen Stadt mit ihrer internationalen Bevölkerung. Die Mischung aus alten und neueren Häusern, engen Straßen, kleinen Geschäften, vielen Bäckereien, Café-Bars, orientalischen Restaurants, Strip-Lokalen, Nachtbars, Bordellen und Stundenhotels hat etwas sehr Französisches, Selbstverständliches. Das Haus, in dem Madame Réal wohnt, ist alt, schlicht, hell verputzt und liegt gegenüber einer großen Schule mit Schulhof und Bäumen. Das Tropenhaus ist kühl und hellblau gestrichen. Eine steinerne Treppe mit zierlichem Geländer führt hinauf in den 3. Stock. Auf unser Klopfen schlagen zwei Hunde heiser kläffend an. Erst nach einer Weile wird vorsichtig geöffnet, Madame Réal blickt uns misstrauisch an, obgleich wir auf die Minute pünktlich sind. Ihr Haar ist wirr, das Make-up ein wenig verwischt. Sie wirkt wie eben aus tiefem Schlaf erwacht, schiebt die Hunde dann aber energisch mit dem Fuß beiseite, bittet uns herein und führt uns in eine geräumige, wohnliche Küche. Die Einrichtung ist bescheiden und wirkt studentisch. Fenster und Küchenregale sind orangefarben lackiert, im Regal aufgereiht verschiedene Espressokännchen aus Zink, Gewürze. An einem Schnürchen über dem Spülbecken hängen gelbe Gummihandschuhe und ein gewaschenes Taschentuch. An der Wand gegenüber kleben ein vergilbter Zeitungsartikel mit Bild von Antonin Artaud und einige Fotos des verstorbenen Chihuahua-Mischlingshündchens. Auf dem Tisch in kleinen Stapeln Zeitungen, Magazine, dazwischen ein Buch über Picasso, eine Sartre-Biografie, ungeöffnete Post. Unter dem Tisch zwei semmelfarbene, kurzhaarige, stämmige Chihuahua-Rüden. Sie fixieren uns mit hervorquellenden, weit auseinander stehenden Augen und kommen, schwankend vor Argwohn, auf meine ausgestreckte Hand zu. Dem Zarteren von beiden hängt die Zunge so seltsam aus dem Maul heraus, wie es sonst nur bei einem toten Tier der Fall ist. Beide Hunde jedoch sind höchst lebendig, knurren ab und zu warnend und stürzen sich dann plötzlich vorsorglich auf zwei herumliegende Knochen, die sie mit ihren kleinen Zähnen heftig benagen. Bald ziehen sie sich beruhigt in ihre gepolsterten Stoffhäuschen zurück, von denen vier oder fünf bereitstehen; man nennt sie hier Observatorien.

„Das sind die kleinsten Hunde der Welt“, sagt Madame Réal, springt vom Französischen fließend ins Deutsche und zeigt mit ihrem rosa Fingernagel auf die leicht dösenden Tiere, „das sind echte Chihuahuas, allerdings mit kleinen Fehlern . . . ich habe sie günstig bekommen, niemand wollte sie haben. Der Kleinste saß drei Jahre lang in einem Käfig und war ganz wild – jetzt ist er zivilisiert. Seine Zunge ist zu lang, er kann sie nicht im Maul zurückhalten. Der Größere hat diese schiefen Ohren und, was viel schlimmer ist, eine Hüftluxation von Geburt an. Ich passe sehr auf und trage ihn auf der Treppe, sonst leidet er vielleicht beim Hops-hops-hops. Wissen Sie, ich müsste eigentlich nächte- und tagelang an der Dokumentation für mein Archiv arbeiten, so viel Material ist vorhanden, ich investiere eine Menge Zeit, versende Kopien, lese viel, aber auch diese Hundchen nehmen mir die Zeit weg. Ich bin 72! Doch nun ist es zu spät, ich liebe sie, sie sind mein kleiner Luxus, 83 Franken Hundesteuer pro Hund! Das ist für mich nicht wenig. Ich bekomme zwar eine staatliche Altersversorgung, die ist aber, wie bei vielen Frauen, die allein eingezahlt haben, viel zu klein, also wird sie ein wenig ergänzt durch eine Sozialrente. Leisten kann man sich damit nicht sehr viel, leider.“

Madame Réal erhebt sich, stellt Gläser auf den Tisch und schenkt uns Mineralwasser ein. Ihre Bewegungen sind sanft und passen gut zum weiblich gerundeten Körper und der ruhigen Stimme. „Ich zeige Ihnen gerne mein Archiv, aber es ist alles noch im Aufbau . . .“ Sie führt uns hinaus in den kleinen Flur, die Hunde folgen. Die Wohnung hat zwei Zimmer, im kleineren von beiden sind bereits Regale aufgebaut und teils gefüllt mit Ordnern und Büchern. Kartons und Möbelteile scheinen vorübergehend abgestellt. Sie deutet in die Runde, es soll ein Arbeitstisch hineingestellt werden, wenn alles fertig ist, eine Kartei wird es geben, ein Kopiergerät. Wer Interesse hat, kann sich dann informieren, nachschlagen und lesen in den vielen Büchern, Texten und Materialien, die sie zum Thema Prostitution, Sexualität und Erotik im Laufe der Zeit gesammelt hat. Dann führt sie uns ins Schlafzimmer, das nicht, wie erwartet, plüschig-anzüglich ausgestattet ist. Es gibt eine Art Alkoven in Rot, das schlichte französische Bett steht aber frei im Raum und ist mit einem indischen Tuch bedeckt. An den Wänden ziehen sich Bücherregale entlang, teils gefüllt mit Archivmaterial. In der hellsten Ecke am Fenster steht eine Etagere mit robusten Blattpflanzen. „Es ist noch viel zu tun“, seufzt Madame Réal. Im schmalen Klo hängt ein Ausstellungsplakat des Malers Paul Delvaux: eine einsame Dame in bodenlangem Spitzenkleid, die in einer nächtlich beleuchteten Straße an einem Ziegelhaus vorbeigeht.

Madame Réal sinkt auf den Küchenstuhl und nimmt das bittend blickende Hündchen mit der langen Zunge schließlich auf den Schoß, wo es sich zufrieden niederlegt. „Wissen Sie, es war schwierig, mein Leben, es war hart, aber ich habe sehr viel gelernt über die Menschen, über die Sexualität . . . In der ersten Zeit damals war ich wirklich verloren, ich kam ja aus einer behüteten, guten Familie und hatte gar keine weitere Ahnung. Ich habe alles geglaubt anfangs, mit der Zeit aber wurde ich gescheiter. In Deutschland habe ich mich zum ersten Mal prostituiert aus einer Notsituation heraus. Die Kinder und ich wären ja sonst verhungert. Mein schwarzer Freund, ein schizophrener Medizinstudent, mit dem ich zusammenlebte, konnte für unseren Unterhalt nicht sorgen. Ich war illegal in Deutschland, hatte weder Aufenthalts- noch Arbeitsbewilligung und war vollkommen mittellos. Mein Freund sagte, ja, du kannst ausgehen, tanzen, es gibt Lokale für die Soldaten der amerikanischen Armee, du kannst Liebe mit ihnen machen, ich werde nicht eifersüchtig sein, aber du musst Geld dafür verlangen – und komm ja nicht mit einem Kind oder mit einer Krankheit nach Hause, dann bringe ich dich um.“ Sie lacht kurz auf und fährt fort: „Oh, das war die höchste Misere, ich wusste nicht, wie viel Geld und wie ich es verlangen muss. Dem ersten Mann erzählte ich, meine Kinder und ich haben nichts zu essen, dann weinte ich. Er schenkte mir 30 Mark ohne Gegenleistung. Das war ermutigend . . . aber die anderen wollten natürlich! Die Kinder waren am Tag in einem Heim bei katholischen Schwestern, wenn ich beschäftigt war, und abends zum Schlafen nahm ich sie zu mir. Mein jüngerer Sohn war mir von seinem Vater – er war Jude und Franzose – weggenommen worden, er hat ihn in eine Pension gebracht. Die musste ich aber bezahlen, denn er hatte kein Geld. Auch den ältesten Sohn hatte man mir weggestohlen während der Tuberkulosekrankheit – die Großeltern. Also hatte ich nur das Mädchen und einen Burschen bei mir. Es war natürlich trotzdem schwer für uns. Manchmal gingen wir bei schönem Wetter in den Englischen Garten, ich suchte mir am Boden eine kleine Kuhle, legte Decken hinein und sagte zu den Kindern: Spielt ein wenig, aber bleibt hier in der Nähe. Und manchmal konnte ich ein bisschen schlafen. Und nachts . . . uhhh! Da musste ich aufpassen. Ich ging in Schwabing spazieren auf der Suche nach Freiern, ich musste ja morgens mit Geld nach Hause kommen. Wir lebten von Tag zu Tag. Von dem schwarzen Freund musste ich mich bald trennen, er begann zu trinken und wurde gewalttätig. Auch das Hotel musste ich verlassen wegen der schwarzen Soldaten, die durch das Fenster hinein- und hinausspazierten.

In dieser schlimmen Situation, auf der Straße mit zwei Kindern, illegal in einem fremden Land, hat mich eine Zigeunerfamilie aufgenommen. Dafür bin ich ihnen heute noch dankbar. Das war die Familie Chadraba-Ritter, sie hatten eine Menge Kinder, sie gaben mir einen kleinen Wagen – ich habe noch Fotos davon – mit einem Tisch und zwei Betten. Die Tür musste ich mit Schnur zumachen. Es gab kein Wasser und keine Elektrizität. Diese Zigeuner, das waren bewunderswerte Leute, fantastisch! Sehr menschlich, obwohl sie in Konzentrationslagern gewesen waren, in Dachau und Auschwitz viel gelitten und nur mit Glück überlebt haben. Sie sprachen unter sich in Romani, der Zigeunersprache, konnten aber auch Russisch, Polnisch und Deutsch. Mit mir sprachen sie in Deutsch. Natürlich waren sie sehr arm. Ich ging jede Nacht aus, nach Schwabing, um Geld zu verdienen, gab ihnen davon ab und brachte Lebensmittel und alles mit. Das Lager war außerhalb der Stadt. Manchmal brachte mich der Zigeunervater mit seinem Wagen hinunter, oder ich fuhr per Autostopp. Das ging eine Weile gut, dann wurde ich an die Polizei verraten und musste verschwinden. In diesem Lager vor der Stadt lebten auch Deutsche, Marginalisierte, sie waren eifersüchtig auf die Vorteile der Zigeuner und denunzierten mich.

Ich ging nach München in ein Bordell und gab die Kinder zu den katholischen Schwestern. Es war ein offenes Bordell in der Hohenzollernstraße, ein Backsteinhaus. Wir waren mehrere Prostituierte und empfingen nur Angehörige der US Army, Schwarze und Weiße. Ich empfing nur Schwarze. Ich war eine so genannte Negerhure. Die schwarzen Männer verachteten uns Prostituierte nicht wie die Weißen, die viel moralischer sind. Die schwarzen Männer hatten sehr viel Herz für meine Kinder, haben sie auf den Arm genommen oder auf den Rücken, haben mit ihnen gespielt und sie beschenkt. Mich, die Hure, behandelten sie – wie eine Königin. Und sie behandelten mich wie eine Ehefrau im Bett, waren besorgt, dass ich einen Orgasmus habe. Und auch sie selbst waren wie Könige, wie stolze Dogen, auf den ersten Blick unnahbar, schön, mit ihrer samtenen, duftenden Haut und ihrem glucksenden Lachen. Sie haben die Prostitution zu einem erlesenen Vergnügen gemacht, zu einer ästhetischen Freude. Es hat mir gefallen, ihre pechschwarzen Schwänze nur anzusehen. Zuvor hatte ich Nacht für Nacht meine Gesundheit und auch mein Leben auf der Straße gefährdet, um mit irgendwelchen Unbekannten mitzufahren, um ihnen die merkwürdigsten Gefallen zu erweisen. Einer der Männer ließ mich nachts in der Kälte mitten im Wald zurück, ein anderer wollte von mir umgebracht werden. Ich habe die Perversion der weißen Männer, ihre Moral und deutsche Spießbürgerlichkeit kennen gelernt, ihre kleinen, vertrockneten Herzen und ihr schwächliches Geschlecht, ihre traurigen Gesten, mit denen sie ihre Angst vor der Frau maskieren. Sie möchten, dass man sie mit Nadeln pikst und in ihre vertrockneten Eier tritt, mit Nagelhandschuhen schlägt und mit Peitschen, um irgendeinen toten Saft herauszupressen aus einem gefühlskalten, leblosen, verschanzten Mann. Und ich habe die Wärme und Lebendigkeit der Schwarzen kennen gelernt. Und ich fand auch wieder eine große Liebe, Rodwell, für den ich dann nach Marokko fuhr, Marihuana kaufte, um es in Deutschland zu verkaufen. Dafür hat man mich letzten Endes dann sieben Monate ins Gefängnis gesteckt und meine Kinder und danach auch mich ausgewiesen aus Deutschland.“

Der Hund in ihrem Schoß erwacht, zieht seine Zunge in den Mund zurück und will auf den Boden gesetzt werden. Madame Réal hebt ihn behutsam hinunter und fährt fort: „Aber, wissen Sie, mein eigentlicher Berufsweg als Prostituierte lag noch vor mir, ich habe dann hier in Genf – teils auf dieser Seite, teils auf der anderen Seite der Rhône – noch 25 Jahre gearbeitet. Aber dazwischen, von 69 bis 75, habe ich gar keine Prostitution betrieben, sondern ein Buch geschrieben, war in Paris, um dort am politischen Leben und am Hurenstreik 1975 teilzunehmen. Das waren meine einzigen Ferien. Die einzigen Ferien, die ich sonst gewöhnlich genoss, waren die Tage der Periode.“ Sie lacht. „Sonst nur arbeiten – und lernen, ja! Ich war ja eine Selfmade-Prostituierte in Deutschland, aber hier in Genf war ich bei einer französischen Dame angestellt, bei der ich sehr viel gelernt habe über das Psychologische und die sexuellen Techniken der Prostitution. Leider wurde sie dann ausgewiesen von der Polizei. Sie war eine sehr vielseitige und geschickte Dame. Erfahrene Prostitutierte sind gute Lehrerinnen. Fast alles, was ich weiß und kann auf dem Gebiet der Sexualität, das habe ich von Prostituierten gelernt . . . Aber wir wissen natürlich, letztendlich lernen die Prostituierten alles von den Männern. Das ist ebenso bei einer Ärztin, bei Mathematikerinnen oder Gentechnikerinnen. Sie praktizieren eine männlich gedachte Wissenschaft. Das andere, anders orientierte Wissen der Frauen ist in der Geschichte verschwunden. Es wurde bekämpft und unterdrückt, leider, ebenso wie die wunderbaren Kenntnisse und Fähigkeiten der weiblichen Sexualität.

Wir Prostituierte wurden Expertinnen der Männersexualität. Das hat mich sehr interessiert, sie nicht nur kennen und beherrschen zu lernen, ich wollte sie auch verstehen lernen. Nur was ich gut kenne, beherrsche ich auch. Wir brauchen eine Mischung aus Technik und Psychologie. Prostitution war für mich immer eine Kunst und eine Wissenschaft, auch eine Humanwissenschaft. Die Art und Weise, wie man einen perfekten Cunnilingus macht, lege artis, die ist es, die uns einen Teil unserer Anerkennung und Macht zurückbringt.“

Madame Réal blickt sinnend durchs Fenster in den Hinterhof auf die in der Abendsonne liegenden Dächer und sagt entschieden: „Das Schlimmste sind die Schuldgefühle, die lieblose und ausweichende Aufklärung. Das gilt auch für die heutige Zeit, wo es kein Tabu mehr gibt. Für Kinder darf es nicht kompliziert sein, aber auch nicht erotisch oder sexy. Meine Kinder haben damals gefragt: Wo sind wir jetzt rausgekommen? Und ich habe gesagt, aus meiner Vagina. Sie haben gefragt: Was ist eine Vagina, können wir das sehen? Ich habe ihnen meine Vagina gezeigt, und sie waren mit dieser Erklärung zufrieden. Ich als Prostituierte weiß, wie wenig frei unsere freizügige Sexualität in der Wirklichkeit ist. Deshalb sage ich, die Sexualität in sich muss studiert werden – und sie sollte für alle studierbar sein, für Männer und für Frauen, so wie die Musik, die Medizin und der Sport. Man weiß alles über Tennis, über Football, übers Schwimmen, es gibt Vereine, man kann Stunden nehmen. Aber man kann nicht zweimal in der Woche Sexstunden nehmen, um Kenntnisse zu erwerben und zu verbessern. Jeder Mensch muss sich das selbst dilettantisch zusammensuchen, im Geheimen, und das Wenige verkümmert dann im Alter auch noch zu einem rudimentären Rest. Wissen Sie, es gibt zahllose sehr ungeschickte, unerfahrene und affektgestörte Männer – und auch Frauen natürlich, aber die sind vielleicht nicht so gefährlich im Extremfall. Und wir Prostituierten haben es mit diesen Problemen zu tun. Wir machen Praxis mit dem Körper der Männer, fassen ihn an, bringen Erleichterung und kurieren. Wie ein guter Arzt, der sich auf den Arbeiter werfen muss, um eine Schulter wieder einzurenken. Aber respektiert man uns, wie man einen guten Arzt respektiert? Nein! Alte Hure! Das ist ein schlimmes Wort. Alter docteur! Ist das ein Schimpfwort? Nein. Nun, wir Prostituierte beuten die sexuelle Misere der Männer aus, wir nehmen Geld dafür, unseren Hurenlohn, wie schmutzig! Aber ein Arzt, der die gesundheitliche Misere seiner Patienten ausbeutet? Was für eine Selbstverständlichkeit. Ridicule!“ Alarmiert durch die etwas lautere Stimme ihrer Herrin springen die beiden Hündchen aus ihren Observatorien hervor und mustern uns mit funkelnden Augenpaaren.

Madame Réal fährt lächelnd fort: „Wissen Sie, das ist der Grund, weshalb ich für die Anerkennung und für die Rechte der Prostituierten kämpfe, seit 25 Jahren. Ich habe hier ASPASTE mit gegründet, eine Beratungsstelle für Prostituierte in Genf, heute bin ich nur noch Ehrenmitglied, und ich habe das schweizerische Netzwerk zur Verteidigung der Rechte von SexarbeiterInnen PROCORE mit gegründet – Prostitution, Kollektiv, Reflexion –, und ich habe ASTARTE gegründet, eine kleine Prostituiertenverbindung. Ich gehe auf diese Kongresse, internationale Kongresse. Es gibt höchstens eine Frau pro Land, ich vertrete meist die Französinnen noch mit, wenn keine kommen kann. Manchmal ist es sehr schwer, alle zusammenzutrommeln. Ich habe damals für die USA, Seattle, beispielsweise herumtelefoniert mit Prostituierten, auch in Deutschland, und man sagte mir: ‚Oktober? Nein, nein, das ist die beste Zeit zum Geldverdienen, da gibt es die meisten Freier, da kann ich keine Minute erübrigen, um auf einen Kongress zu gehen.‘

Das ist natürlich dann schwierig. Ich selbst nehme teil, so gut ich kann. Ich ging sogar zu den Neo- und Abolitionisten und habe gesprochen. Wir müssen uns öffentlich stellen, uns bekennen. Ich habe mich ins Schriftstellerlexikon der Schweiz mit der Berufsbezeichnung ‚Prostituierte‘ eintragen lassen. Das war ein mittlerer Skandal. Viele schweigen, wenn sie alt sind, um nicht bespuckt zu werden. Also, das wäre ein letzter Kampf um die uns zustehenden juristischen und moralischen Rechte. Darum, dass wir und unsere Honorare respektiert werden. Aber wir wollen nicht nur, dass wir anerkannt werden, wir wollen auch, dass die SEXUALITÄT anerkannt wird – denn die wird ja auch nicht anerkannt!“

Letzte Meldung: In Kürze wird durch den Bundestag die Prostitution als Beruf anerkannt.

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