auf augenhöhe: Evelyn Künneke ist tot
Die Wohnung
Die Adresse befand sich in einer Westberliner Seitenstraße. Über das Klingelschild wunderten wir uns nicht, schließlich könnten viele Menschen so heißen. Der junge Mann, der öffnete, trug einen Kaftan und ein Hütchen auf dem Kopf. Dazu hatte er einen Joint in der Hand. Freundlich ließ er uns ein. Er war der Untermieter. Und bevor er in das blaue Zimmer zog, war das Rosa von Praunheim gewesen, erzählte er. Wir standen unbeholfen in der geräumigen Küche. Ein schmaler Junge kochte Mehlspeisen. Schüchtern streichelte man die Katze. Sie war groß wie ein Puma. Erst allmählich begannen wir, uns zu wundern. Die verschlungene Ansammlung von Zimmern hatte etwas Höhlenhaftes. Die Einrichtung war abgetragen. Die Heizkörper zierten Jugendstilmuster, die Stuckdecken waren eingerissen, die Sofas schief gesessen. Und wir dachten, dass man an solchen Orten gerne überwintert. Die Bilder an der Wand zeigten Schiffe vor Capri und Sängerinnen mit dickem Make-up. Die alte Frau sei im Krankenhaus, sagte der tunesische Untermieter. Man sah, dass er sich sorgte. Auf dem Couchtisch standen Schachteln mit Tabletten. Wir schoben sie ein wenig zusammen, um nicht darüber nachdenken zu müssen. Als ich hörte, dass die Chanson-Sängerin Evelyn Künnecke gestorben ist, war ich traurig. Ich kenne nur ihre Wohnung. KIRSTEN KÜPPERS
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