: Speicher der Erinnerung
Schweißausbrüche, Gänsehaut: Die Kunst, Gefühle sichtbar zu machen, ist ein Leitmotiv der Filme von Heddy Honigmann. Das Arsenal widmet der niederländischen Regisseurin eine Werkschau
von BARBARA SCHWEIZERHOF
Mit den Gefühlen ist es so eine Sache: Von ihnen überwältigt zu werden, kann demütigend sein, spürt man doch, wie der eigene Körper sich der Kontrolle entzieht und Gänsehaut, Tränen oder Schweißausbrüche die seelischen Regungen wider den Willen des Ichs bloßstellen.
Solche Momente zu filmen, darauf ist das Kino ganz versessen, das fiktionale und das dokumentaristische gleichermaßen. In „Crazy“ lässt Heddy Honigmann holländische UN-Soldaten verschiedener Generationen von ihren Einsätzen in den Kriegen des 20. Jahrhunderts erzählen – Korea, Kambodscha, Ruanda, Jugoslawien. Unwillkürlich wartet man da auf den Moment, wo die Erzählung ins Stocken gerät, weil Gefühle den Sprecher überwältigen. Und wehe, wenn das nicht passiert! Wer über die Schrecken der Erinnerung die Oberhand behalten kann, den urteilen wir Zuschauer schnell als Gefühlsmonster ab – unsere Empathie müssen sich die Protagonisten schon durch einen kleinen Zusammenbruch erkaufen, das sieht die Werteskala der Dokumentarfilmpädagogik so vor.
Honigmann jedoch gelingt es, die Gefühle der Soldaten anders sichtbar zu machen: Sie schaltet Musik dazwischen. Jeden ihrer Interviewpartner hat sie nach dem Lied oder Musikstück gefragt, in dem die emotionale Erinnerung an die Zeit des Einsatzes gebündelt ist. Das Anhören dieser Stücke vor laufender Kamera erweist sich für die Soldaten als Möglichkeit, seelische Erschütterung zu zeigen, wo ihnen ihr Beruf gepanzerte Gefühlsarmut vorschreibt. Egal, ob Opernarie, Volkslied, Chanson oder Popsong, stets dient die Musik zu mehr als nur der rein sentimentalen Evokation von Erinnerung. Über die einzelnen Stücke zu sprechen, ist jedesmal Anlass, gerade die chaotische Gemengelage der Empfindungen zu thematisieren, die der Krieg auslöste: Gefühle, die sich nicht rubrizieren lassen, die den Rahmen sprengen, die „wie Sand durch die Finger rinnen“ und eben „crazy“ sind. Getragen von den Intensitätsformeln der Musik, können sich die Soldaten zu ihren unwillkürlichen Reaktionen bekennen: den Schweißhänden und der Gänsehaut.
Solch kluger Umgang mit den Gefühlen der Gefilmten zeichnet sämtliche Dokumentarfilme der in Peru geborenen Holländerin Heddy Honigmann aus. In „Two minutes silence, please“ befragt sie Jugendliche und Alte, Juden und Nichtjuden, Kinder von Verfolgten und Kinder von Kollaborateuren danach, wie sie den „Memorial Day“, den holländischen Gedenktag an die Opfer des Weltkrieges, begehen. Keine Seite wird hier entlarvt oder eines falschen Denkens überführt. Was entsteht, ist ein ziemlich faszinierendes Mosaik einer nationalen Identität, das man aus deutscher Perspektive nur mit so etwas wie neidischer Befremdung wahrnehmen kann.
Distanz zu wahren, ohne das Interesse zu verlieren, diese Technik beherrscht Honigmann so gut, dass sie sich auch kamerascheuen Existenzen zu nähern versteht. Wie in „The Underground Orchestra“, in dem sie Straßenmusikern in der Pariser Metro nachgeht. Was zuerst wie ein pittoreskes Alltagskulturthema klingt, erweist sich als Auseinandersetzung mit einem für Honigmann ganz zentralen Thema: dem Exil. Der Harfenspieler aus Venezuela, der Geiger aus Sarajevo, die Akkordeonisten aus Rumänien, sie alle verkraften in ihrem prekären, oft illegalen Dasein nicht allzu viel Aufmerksamkeit. Doch der diskreten Vorsicht Honigmanns gestatten sie offenherzige Einblicke in einen Mikrokosmos, in dem sich symptomatisch die Probleme der ganzen Welt zu spiegeln scheinen.
Was man als Leitmotiv ihrer Dokumentarfilme angeben könnte – Gefühle sichtbar zu machen, die nicht sofort auf der Hand liegen –, gilt ähnlich auch für ihre Spielfilme. So dauert es in „Auf Wiedersehen“ über zwölf Minuten, bevor der erste Dialog beginnt. Was wir bis dahin sehen, ist ein kurzer Zusammenstoß zweier Menschen auf der Eisbahn, ein Aufflackern von gegenseitigem Interesse und eine weitere zufällige Begegnung, die schließlich ein veritables Feuer der Leidenschaft auslöst. Und als sie da sind, all die hochfliegenden Emotionen, kommen mit den Worten prompt die leidvollen Erfahrungen in die Geschichte. Wie sich beginnendes Glück in Schmerz verwandelt, auch wiederholte Enttäuschung das Verlangen nicht zum Verschwinden bringt und welche Anziehungs- und Überlebenskraft gerade beschädigten Gefühlen eigen ist, all das lässt sich in „Auf Wiedersehen“ besichtigen.
Trotz aller Emotionen werden Honigmanns Filme aber nie „gefühlig“. Das verhindert zum einen ihr Interesse am Zwiespältigen, am Zusammenspiel sich widersprechender Empfindungen, und zum anderen ein Beharren darauf, gewisse Grenzen nicht zu überschreiten. So sehr ihre Filme einladen zur Identifikation mit den Figuren, so sehr bleibt der Zuschauer auch außen vor, in einer Art Diskretionsabstand. Die Sympathie wird dadurch aber eher größer als kleiner. Wie in „Mind Shadows“, wo Maarten, holländischer Emigrant in Kanada, Zug um Zug sich selbst vergisst. Die langsame Desintegration von Erinnerung und Bewusstsein eines Alzheimer-Kranken ist aus seiner Perspektive erzählt.
Doch während ihm die Gegenwart entgleitet, er das Verhältnis zu seinen Liebsten und der eigenen Person verliert, lernt der Zuschauer ihn ja erst richtig kennen. Als er am Ende im Heim landet, kein Englisch mehr spricht und glaubt, der letzte Überlebende seiner Sprache zu sein, könnte die Trauer deshalb kaum intensiver sein.
Die Filme von Heddy Honigmann sind bis zum 24. 5. im Arsenal, Potsdamer Straße 2, Tiergarten, zu sehen. Am 19. und 20. 5. ist die Regisseurin jeweils ab 19 Uhr zu Gast im Arsenal
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