: Mit dem Lächeln der Beherrschung
Das Berliner Philharmonische Orchester dachte dem Schweizer Mäzen Paul Sacher zu gedenken und entdeckte stattdessen die finnische Vormoderne
Paul Sacher war einer der reichsten Männer der Schweiz. Das ist problematisch. Er verfügte über die Aktienmehrheit des Pharmakonzerns Hoffmann-La Roche. Das macht die Sache nur noch schlimmer. Er liebte die Musik. Das tut zunächst nichts zur Sache. Er liebte die alte und mehr noch die neue Musik. Das ist ungewöhnlich. Er verwendete jeden verfügbaren Franken auf die Förderung und Erforschung unbekannter Musik. Das grenzt an ein Wunder.
Paul Sacher war ein Geschenk für die alte und für die neue Musik. Einen besseren Enthusiasten hätte man sich nicht erträumen können. Seine 1933 gegründete Ausbildungsstätte für historische Aufführungspraxis, die Schola Cantorum Basiliensis, ist bis heute ohne Ebenbild. Bleibenderen Einfluss noch erwirkte Sacher auf dem Terrain der zeitgenössischen Musik: als Dirigent, als Mäzen und Auftragsgeber und als Gründer der Paul-Sacher-Stiftung. An einem Aufenthalt in der Basler Stiftung, die die Nachlässe eines so ziemlich jeden namhaften Komponisten der Nachkriegsära verwaltet, kommt heute kein ernsthaft das 20. Jahrhundert erforschender Musikwissenschaftler mehr vorbei.
Recht und billig also, dass das Berliner Philharmonische Orchester dem großen Tugut der Gegenwartsmusik zwei Jahre nach seinem Tode mit einem Gedenkkonzert ehrte. Für das Pult hatte man in weisem Rat den jungen finnischen Stardirigenten Esa-Pekka Salonen bestimmt. Die Tafel war also festlich gedeckt. Aber was wurde serviert, wie wurde es angerichtet und wichtiger noch: War man hungrig?
Nun ist das Berliner Philharmonische Orchester kein ausgesprochenes Ensemble für neue Musik. Die Musiker neigen dazu, ihre mühsam, in einsamen Übungsstunden erworbene Souveränität gewissenhaft auszuspielen. Das führte gleich beim ersten Stück zu Unregelmäßigkeiten. György Ligetis „Melodien“ (1971) lebt von seiner flüchtigen, fast minimalistisch konzipierten Figuration. In der auf Emphase zielenden Auslegung der Philharmoniker musste sich Ligeti in ein gediegeneres Kleid hüllen lassen. Die drangsalierenden Solisten der kammerorchestralen Besetzung staffierte das Ligeti in eher impressionistischem Gewand. Und das – die zu erwartende Empörung muss leider entfallen – stand dem Stück bestens. Von geräuschlastig hingehauchten Klangsplittern keine Spur, stattdessen zupackender, kerniger Ausdruck.
Was bei Ligeti als fruchtbare Interpretationsvariante erschien, grenzte in den beiden folgenden Werken allerdings oft ans musikantisch Anstößige. Mit dem Lächeln der Beherrschung begegnete man zunächst dem leider einzigen Stück, das einen konkreten Bezug zu Paul Sacher herstellte: dem Streicherdivertimento von Béla Bartók.
Von Sacher 1939 in Auftrag gegeben, von Bartók im Folgejahr in der Schweiz komponiert, wird diese Partitur der Nachwelt auf ewig ein Rätsel bleiben. Wie, muss man sich fragen, konnte Bartók angesichts des soeben ausgebrochenen Weltkrieges und seiner bevorstehenden Auswanderung in die USA ein derart unbeschwertes, neoklassizistisches Stück schreiben?
Das Missverhältnis scherte Orchester und Dirigent nicht. Die Streicher klangen so satt und frisch, wie der besaitete Korpus eines Spitzenorchesters nur klingen kann. Der Eindruck war gelinde gesagt überwältigend.
Schließlich ging auch Sibelius vor diesem Orchester in die Knie. Seine frühen „Lemminkäinen-Legenden“ (1893–95) gelten als Gründungsmanifest der finnischen Musik. Salonen dirigierte das Werk mit der blendenden gestischen Rhetorik amerikanischer Vorbilder und die Berliner Philharmoniker folgten. Sibelius' Tiefromantik wurde in groben Gebärden nachempfunden. Nur hier und da erkannte man in einem pointierten Schlagzeugeinsatz, einer ungewöhnlich geräuschhaft vorgetragenen Streicherfigur einen rauschenden Urgrund, dessen Naturalismus Sibelius plötzlich als Vater der Moderne erschienen ließ. Das waren die Klänge, die man in Ligetis „Melodien“ erwartet hatte. Klänge, die Paul Sacher gewiss ein zufriedenes Lächeln abgewonnen hätten. BJÖRN GOTTSTEIN
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