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Die Ordnung achten

Auf der Bühne, nicht selten vor einem Massenpublikum, behandelt der Familientherapeut Bert Hellinger seine Patienten. Hilfe bietet der Heiler und ehemalige Missionar für jeden und alles an

„Was jetzt fällig ist, wäre, dass er sich hinkniet und sich tief vor seinem Vater verneigt. Das bringt er nicht fertig. Er stirbt lieber.“

von MICHA HILGERS

Ein ehemaliger Missionar ist der neue Leithammel der an Gurus nicht eben darbenden Heilerszene. Mit einer Mischung aus theologischen Phrasen, mystischen Geschichten und absoluten Werturteilen bietet der selbst ernannte Familientherapeut Bert Hellinger umfassende Hilfe für alles und jeden. Immer in Gruppen, nicht selten in öffentlichen Großveranstaltungen weist er den Weg durch den Dschungel der Liebe und die Verstrickungen der Herkunftsfamilie.

Ein Mann hat seit einem Jahr Knochenkrebs. Die Behandlung liest sich in einem seiner Bücher so: Hellinger (zur Gruppe) „Er wird sterben. Er geht nicht raus aus der Verstrickung. (zum Patienten) Deine Wut ist dir wichtiger. – Was hast du deinem Vater angetan?“ Patient (trotzig): „Das weiß ich nicht.“ Hellinger: „Hast du ihm was angetan?“ Patient: „Das wüsste ich nicht.“ Hellinger: „Hast du ihn verachtet?“ Patient (mit fester Stimme): „Ja.“ Hellinger: „Das ist es.“ Patient: „Er hat mich ...“ Hellinger: „Was der Vater gemacht hat, spielt hier keine Rolle. Was du machst, das entscheidet. – Stelle dich wieder neben die Schwester. (zur Gruppe) Was jetzt fällig ist, wäre, dass er sich hinkniet und sich tief vor seinem Vater verneigt. Das bringt er nicht fertig. Er stirbt lieber, als dass er das macht. (zum Patienten) Stimmt das?“ Patient: „Nein!“ Hellinger: „Willst du es machen?“ Patient: „Ich will es probieren“. Hellinger: „Nicht probieren! Willst du es machen?“ Patient (mit fester Stimme): „Ja.“

Der Krebspatient ist demnach selber schuld. Hellinger und seine Gruppe stehlen sich aus Ohnmacht, Betroffenheit und der Erkenntnis eigener Endlichkeit davon. Nicht solidarische Identifikation mit dem Patienten und seinem Schicksal, das schon am nächsten Tag jenes der anderen sein könnte, sondern hochfahrende Beschuldigung für das fremde Schicksal entlastet alle – bis auf den Patienten.

Hellingers so genannte systemische Lösungen liefern angeblich objektive Ordnungsvorstellungen, denen Paare und Familienmitglieder zu folgen haben, sofern sie nicht ins Unglück stürzen wollen. „Die Lösung braucht den Mut, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen. Den hat in der Regel nur der Therapeut, vorausgesetzt, er bleibt unabhängig, weiß um die Ordnungen, die in Systemen wirken, und stimmt ihnen zu.“ Hellinger lässt Gruppenmitglieder die Familienangehörigen seines Patienten darstellen, indem ein Teilnehmer zum Beispiel Ehepartner, Kinder, Mutter oder Vater in den Raum stellt.

Im Unterschied zu familientherapeutischen oder systemischen Ansätzen behauptet Hellinger, aus den Äußerungen der aufgestellten Gruppenteilnehmer die tatsächlichen Gefühle oder verborgenen Motive der realen Familienmitglieder, die ja gar nicht anwesend sind, ablesen zu können. Mehr noch: Durch das Aufstellen einer „richtigen“ Ordnung würden die Probleme der Familie gelöst. Im Gegensatz zu den Standards jeder anerkannten Psychotherapie exerziert Hellinger Werturteile, was richtig oder falsch ist, gut oder schlecht. Ohne jede Erläuterung oder theoretische Fundierung kommt er zu absoluten Urteilen: „Bei so einer Situation ist die systemische Ordnung, dass sich der Mann von der ersten Frau trennen und die Frau, mit der ein Kind hat, heiraten muss. Das wäre in Ordnung gewesen.“

Fragt sich bloß, warum scharenweise Menschen Hellinger in seine Welt folgen. Denn dass Hellingers Behandlungen katastrophale Folgen haben können, wurde spätestens nach dem Selbstmord einer Teilnehmerin bekannt. Im Verlauf der damaligen Sitzung – wiederum vor hunderten Zuschauern – befand Hellinger, die gemeinsamen Kinder des getrennten Paares seien beim Mann besser aufgehoben. Der Mutter gab er auf den Weg: „Hier sitzt das kalte Herz. Die Kinder sind bei der Frau nicht sicher.“ Als wäre das vor einem Massenpublikum noch nicht genug, fügte Hellinger eine massive Suggestion hinzu: „Die Frau geht, die kann keiner mehr aufhalten. Das kann auch Sterben bedeuten.“ Es liegt der Schluss nahe, Hellinger werde nicht trotz, sondern wegen seiner rigiden Urteile und Welterklärungen aufgesucht. Und die gibt er zuhauf. Kostprobe: „Die Kinder müssen nach der Scheidung zu dem Elternteil, der in den Kindern den anderen Partner am meisten achtet. Das ist in der Regel der Mann. Wieso, weiß ich nicht, aber man kann es sehen.“ „Rückenschmerzen haben, psychologisch gesehen, immer die gleiche Ursache, und sie werden ganz einfach geheilt: durch eine tiefe Verneigung.“ Gelegentlich erkundigt sich Hellinger: „Ist das reingegangen bei dir?“

Voll rein gehen auch diskriminierende Äußerungen über den Krankheitswert von Homosexualität: „Homosexuell wird einer unter anderem, wenn er ausgeschlossene Böse repräsentieren muss. Und das ist ganz typisch hier. Das ist ein schweres Schicksal, und du kannst da nicht eingreifen“. Bisweilen aber doch. In einem Focus-Interview brüstet sich Hellinger damit, dass ein Homosexueller, zwei Monate nach Behandlung bei ihm, geheiratet und jetzt ein Kind habe.

Es sind die einfachen Antworten, die Hellingers Seelsorge so attraktiv machen. Wo aktuelle Psychotherapie begrenzte Lösungsansätze bietet, aber konsequent auf Antworten und Werturteile verzichtet, füllt Hellingers pantherapeutisches Tun das Vakuum. Bizarre Theorien über die Pathogenese komplexer Erkrankungen und rigide Ordnungen für alle Lebensfragen ersetzen die Notwendigkeit, sich selbst um individuelle Lösungen für das eigene Leben zu bemühen. Die Verantwortung wird an den Guru delegiert, und der nimmt sie mit der Attitüde des Religionsstifters. Wo Wertepluralismus und Rollenkonfusion verwirren, stiftet Hellinger Ordnung: „Die Frau folgt dem Mann.“ Seine Statements sind – psychoanalytisch gesprochen – Überich-Interventionen: entlastend oder strafend, gutheißend oder verdammend – immer aber die eigene Verantwortung des Erwachsenen suspendierend.

Massenveranstaltungen, bei denen Gut und Böse ausgemacht, Teilnehmer beschämt und beschuldigt oder – nach gleichermaßen unverständlichen Regeln – plötzliche Entlastung und Wiederaufnahme finden, bedienen voyeuristische Bedürfnisse. Wer miterleben darf, wie eine Frau wegen ihres bösen Herzens dem Tode anheim gegeben wird oder ein Krebskranker ob seiner Verstocktheit das eigene Schicksal besiegelt, wohnt mittelalterlichen Selbstgeißelungen bei. Die Lust an Hinrichtungsinszenierung oder überraschender Begnadigung kitzelt sadistische Empfindungen und befriedigt den Schlüsselloch-Kick des Big-Brother-Events.

Wie bei allen unverständlichen und wissenschaftlich nicht nachvollziehbaren Heilslehren verstehen die Jünger die Lehren ihres Meisters natürlich nicht. Weshalb alle Äußerungen – und seien sie auch noch so banal – festgehalten werden müssen: Eine Flut von Schriften und Videos dokumentiert jede auch noch so abwegige Bemerkung des Meisters. Auf dass man nichts Wichtiges übersehe, weil man sich selbst nicht im Stande sieht, zwischen Sinn und Unsinn unterscheiden zu können.

In einer globalisierten Welt ist Hellinger besessen von der Suche nach vorgebenen Ordnungen und der Verortung von Schuld und Sühne. Seine therapeutischen Interventionen geißeln das Böse und fordern beständig Sühne und Unterwerfung unter die Eltern oder jene, die angeblich höher gestellt sind. Alte Ordnungen beruhigen, wo neue Unübersichtlichkeit und die Zumutung, sich selbst um Lösungen bemühen zu müssen, verunsichern. So ist Hellinger geblieben, was er immer war – ein Missionar. Wer angeblich vorgegebene Ordnungen entdeckt und einsetzt, schickt seine Patienten in die Unmündigkeit. Und genau das macht die Attraktivität von Hellingers Psychoreligion aus.

Der Autor Micha Hilgers ist Psychoanalytiker und Publizist in Aachen. Von ihm erschienen: „Scham. Gesichter eines Affekts“, Vandenhoeck und Ruprecht, 1996, und „Das Ungeheure in der Kultur. Psychoanalytische Aufschlüsse zum Alltagsleben“, Vandenhoeck & Ruprecht, 1999.

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