Renaissance der Blutsauger

Die Therapie mit Blutegeln kommt wieder in Mode. Nicht nur Heilpraktiker setzen die Ringelwürmer ein, zunehmend nutzen auch Schulmediziner die Fähigkeiten der Blutegel. Noch ist weitgehend unbekannt, was die Würmer im Körper bewirken

„Der Biss tut kaum weh,und das Nachbluten ist einsehr schonender Aderlass“

von ANNETTE KOHLMÜLLER

„Sensibel, sauber, saugstark“, so wirbt Manfred Roth, Biologe und Betreiber der Biebertaler Zuchtanlage Zaug GmbH für seine Blutegel. Die meisten Menschen dürften beim Anblick der zehn bis fünfzehn Zentimeter langen Ringelwürmer ein leichtes Schaudern verspüren, doch der Biologie gerät ins Schwärmen: „Blutegel sind schön: Ihre Rückenzeichnung ist einmalig, und ihr Schwimmstil gleicht dem eines Delphins.“

Manfred Roth kann sich über mangelnde Nachfrage nach seinen Tierchen nicht beklagen, denn immer mehr Heilpraktiker und Ärzte interessieren sich wieder für deren therapeutischen Einsatz.

Dass Blutegel bei zahlreichen Krankheiten wie Durchblutungsstörungen, rheumatischen Beschwerden, Entzündungen und zum Teil sogar bei Tinnitus oder Depressionen erfolgreich wirken können, ist mittlerweile bekannt. Doch die genaue Wirkungsweise der Inhaltsstoffe, die beim Biss der Tiere über ihr Speichelsekret in den menschlichen Körper abgesondert werden, wird erst langsam erforscht.

Eine Behandlung mit Hirudo medicinalis, so die lateinische Fachbezeichnung der Egel, erfolgt meist über mehrere Sitzungen. Dabei werden dem Patienten drei bis höchstens zwölf der kleinen Vampire auf die betroffene Stelle oder das Kreuzbein gesetzt. Mit ihren bezahnten Kiefern ritzen die Tierchen ein kleine sternförmige Wunde in die Haut und saugen etwa ein Schnapsglas voll Blut. Nach einer halben bis einer Stunde fallen sie von selbst wieder ab, gesättigt und bis um das zehnfache vergrößert.

„Der Biss tut kaum weh, und das Nachbluten ist ein sehr schonender Aderlass, der vor allem dazu dient, dass sich die Wunde von selbst reinigt“, so die Hamburger Ärztin Tanja Zeyn, die die Blutegel bei einem Seminar von Manfred Roth im Eigenversuch getestet hat, um sie später ihren Patienten empfehlen zu können.

Welche Wirkstoffe beim Biss des Blutegels im menschliche Körper tatsächlich frei werden und was diese genau bewirken, darüber sind sich die Mediziner allerdings noch nicht im Klaren. Mittlerweile konnten mehr als zehn verschiedene Substanzen isoliert werden, von denen jedoch erst wenige weitergehend erforscht sind. Fest steht bisher nur, dass erst das komplexe Zusammenspiel vieler Wirkstoffe die besonderen Heilerfolge des Blutegel erklärt. So wirken bestimmte Stoffe, zum Beispiel Hirudin, gerinnungshemmend und beschleunigen gleichzeitig die Aktivität der weißen Blutkörperchen. Diese Eigenschaften werden von Substanzen unterstützt, die die Gefäße erweitern, für eine bessere Durchblutung und Verteilung des Sekrets sorgen oder die Bildung von Thrombosen und Entzündungen verhindern.

Um die Zusammensetzung des hoch wirksamen Blutegel-Cocktails wirklich zu verstehen, sei jedoch noch viel Grundlagenforschung nötig, betont Professor Malte Bühring. Er leitet das Instituts für Naturheilkunde der Freien Universität in Berlin und befasst sich seit einigen Jahren mit der therapeutischen Verwendung der kleinen Blutsauger. Zur Zeit läuft unter seiner Leitung am Krankenhaus Moabit ein Forschungsprojekt zum Einsatz von Blutegeln bei Arthrose-Erkrankungen im Knie.

„Wir konnten sehr gute Ergebnisse erzielen“, sagt Bühring. Den meisten Patienten ging es nach einer Blutegel-Behandlung deutlich besser. Herkömmlichen Methoden wie Elektrotherapie, Massagen oder Medikamente hätten die Beschwerden zwar auch gelindert, hätten aber lange nicht die gleiche Wirkung gehabt.

Gustav Dobos vom Klinikum Essen-Mitte bestätigt diese Ergebnisse. Er arbeitet am gleichen Thema und hat gerade die Pilotuntersuchung für eine größere Studie ausgewertet. „Nach einer Behandlung mit Blutegeln waren die Patienten in der Regel für mindestens vier Wochen schmerzfrei“, so auch hier die Erkenntnis.

Doch die heilende Wirkung des Hirudo medicinalis ist nicht neu. Schon in der Antike war der Einsatz von Blutegeln (von griechisch echis = kleine Schlange) bekannt und besonders im Mittelalter in Europa weit verbreitet. In Verruf geriet die Behandlung erst im 19. Jahrhundert, als viele Ärzte den Aderlass als Methode entdeckten und dafür zu brachialen Mitteln griffen: Bis zu hundert Blutegeln auf einmal mussten ihre Patienten auf ihrem Körper ertragen. Unhygienische Bedingungen und der enorme Blutverlust führten nicht selten zum Tod der Betroffenen.

Obwohl im 20. Jahrhundert die meisten Patienten und auch viele Mediziner den blutsaugenden Würmer sehr ablehnend gegenüber standen, gab es bis vor wenigen Jahrzehnten immer noch hoch qualifizierte Ärzte, die ihre Heilkräfte schätzten. Bis in die Fünfzigerjahre seien in deutschen Krankenhäusern Blutegel als Standardtherapie zur Gerinnungshemmung bei Thrombosen eingesetzt worden. „Dies hat sich erst geändert, als das Hirudin gentechnologisch hergestellt und als Medikament vertrieben werden konnte. Viele Patienten fanden das besser, da sie sich vor einer Behandlung mit diesen Tieren ekeln“, sagt Dobos. Ihre Wiederentdeckung durch die Schulmedizin haben die kleinen Sauger Anfang der Achtzigerjahre erlebt.

Plastische Chirurgen des Children’s hospital in Boston fanden heraus, dass verletzte Körperteile durch Ansetzen der Egel schneller wieder verheilen und das Gewebe seltener abgestoßen wird. Besonders in der Gesichtschirurgie haben sich die kleinen Würmer als nützliche Helfer erwiesen. Sie sorgen nach Operationen dafür, dass die winzigen Gefäße am Kopf durchblutet bleiben und wieder besser zusammen wachsen können. Gleichzeitig verhindern sie die Entstehung von Thrombosen und Infektionen, die besonders im Gesichtsbereich schwere Komplikationen nach sich ziehen können. Zwar gibt es auch die Möglichkeit, Medikamente zu verabreichen, doch hat sich der Einsatz der Blutegel in vielen Fällen als günstiger erwiesen. „Heute ist man mehr und mehr zu der Überzeugunge gelangt, dass Arzneimittel mit isolierten Substanzen selten so gut funktionieren können wie der hoch komplexe Wirkstoff-Cocktail der Blutegel“, sagt Bühring. „Außerdem sind diese Tiere wesentlich billiger und ökonomischer als Tabletten zu schlucken. Und sie haben keine Nebenwirkungen.“

Um die Übertragung von Aids oder Hepatitis zu verhindern, werden Blutegel grundsätzlich nur einmal verwendet. Danach werden sie getötet oder – als Lohn für ihre Arbeit – zurück in den Rentnerteich der Zaug-Zuchtanlage geschickt. Dort können sie gemeinsam mit ihren Artgenossen noch bis zum Alter von dreißig Jahren unbehelligt um die Wette schwimmen.