Erlöst vom bösen Geist

Jörg Böhme, laut Manager Assauer „der Bekloppte“, schießt den FC Schalke 04 mit zwei Toren zum Pokalsieg und befreit damit den ganzen Verein vom Meisterschaftstrauma der Vorwoche

aus Berlin FRANK KETTERER

Alles war anders und alles war gut so, wie es war. Diesmal würde keiner kommen, der sie wachrüttelte aus süßestem Traum. Diesmal würde ihnen der Fußballgott, dieser verdammte Scheißkerl, nicht eine lange Nase drehen und in letzter Sekunde wieder wegnehmen, was sie schon ihr Eigen wähnten. Diesmal pfiff Hermann Albrecht aus Kaufbeuren die Partie einfach ab, und mit diesem Pfiff war alles zu Ende. Aus, aus, aus, das Spiel ist aus. Schalke ist Pokalsieger. Und das Trauma überwunden, ganz bestimmt. Vorbei und vergessen – für alle Zeiten.

Vergessen? „Meine erste Frage nach dem Schlusspfiff war“, erzählte später Jörg Böhme, zweifacher Torschütze des FC Schalke 04 in diesem Finale gegen den 1. FC Union Berlin und damit Pokalheld, „ob noch irgendwo ein Spiel läuft.“ Es lief keines mehr, nirgendwo, schon gar nicht in Hamburg, wo ihnen vor Wochenfrist der FC Bayern München, diese Dusel-Bayern, die Meisterschale aus der Hand gerissen hatten in allerletzter Sekunde und auf so dramatische Weise. „Wir waren Meister für vier Minuten. Das kann uns keiner mehr nehmen“, sagte Böhme nun noch einmal und mit leicht sarkastischem Unterton. Diesen Pokalsieg aber werden sie gar für immer behalten dürfen. „Der Pott steht immer noch in unserer Kabine“, versicherte Böhme, der Torschütze, gerade so, als müsse er sich das selbst noch ein letztes Mal bestätigen: „Den kann uns niemand mehr nehmen“, wiederholte Böhme sich selbst, diesmal ganz ohne Sarkasmus.

Im Spiel selbst schien das lange Zeit gar nicht so sicher. Denn Union Berlin, der Außenseiter aus der Regionalliga, spielte respektlos auf, hatte sich nach fünf Minuten zwei Ecken und zwei gar nicht so schlechte Chancen erkämpft, und nach weiteren 18 Minuten durch Stürmer Harun Isa, überraschend für Daniel Teixeira ins Team gerückt, einen sehenswerten Zwirbelschuss genau auf den Torwinkel zu verzeichnen. Berlin, gerade aufgestiegen in die zweite Liga und nächste Runde auch im Uefa-Cup mit von der Partie, schien beflügelt von dem Gedanke, in dieser Saison bereits alles erreicht zu haben, Schalke hingegen schleppte sichtlich schwer an der Last des Meisterschaftstraumas.

„Wir haben uns ganz schwer getan, ins Spiel zu finden“, analysierte Trainer Huub Stevens später gewohnt nüchtern, erst nach knapp einer halben Stunde schienen die Königsblauen die Lähmung aus ihren Köpfen und Beinen schütteln zu können. Andreas Möller, bis dato abgetaucht in der Tiefe des Raumes, gab nach 25 Minuten einen ersten Warnschuss in Richtung Union-Gehäuse ab, Tomasz Hajto prüfte nur eine Minute später Berlins Keeper Sven Beuckert. Erst jetzt offenbarte sich ansatzweise, was Trainer Stevens hernach als spielentscheidendes Detail herausfilterte: dass da der Bundesligazweite gegen einen Regionalligisten spielte.

Noch spielentscheidender aber war, dass Jörg Böhme seinem von Rudi Assauer verpassten Spitzname einmal mehr alle Ehre machte. „Den Bekloppten“ nennt der Schalke-Manager den 27-Jährigen aus Thüringen bisweilen, weil der „Kerl immer wieder auch aus 40 Metern Bälle auf die Kiste hauen wird.“ Diesmal waren es „nur“ rund 25 Meter, zunächst: Im wahrsten Sinne mit links drechselte Böhme einen Freistoß in der 53. Minute an der Union-Mauer und Torhüter Beuckert vorbei zum 1:0 ins Netz, fünf Minuten später exekutierte er auch noch den von Beuckert an Emile Mpenza verschuldeten Elfmeter. Und erst dieser zweite Treffer war es, der Schalke endgültig erlöste vom bösen Geist von Hamburg und es mit sich ins Reine kommen ließ, ausgerechnet der Bekloppte hatte sie alle miteinander therapiert.

Sie müssen nun nicht mit dem Stigma des Versagens in die Sommerpause ziehen und sich quälend lange Wochen immer wieder das Hirn zermartern nach dem Warum, sondern können eine zweifelsohne famose Saison als solche auch ablegen in der Vereinshistorie: Als die Schalker Mannschaft, die zum dritten Mal, nach 1937 und 1972, den DFB-Pokal gewann – und eben nicht als jene, die die Meisterschaft in letzter Sekunde verlor. „Natürlich wird man gerne Meister. Aber der Pokal ist auch ein schöner Titel“, packte Trainer Stevens all diese Dinge in nur einen Satz. Und Ebbe Sand, der Torjäger, ergänzte: „Nach der Enttäuschung war es unglaublich wichtig, dass wir was zu feiern haben.“

Das hatten sie, und sie taten es ausgiebig, zunächst im Stadion mit über 30.000 glückseligen Schalke-Fans und Bundeskanzler Schröder, später im Hotel Steigenberger und bis in den frühen Morgen. Und selbst Gerhard Mayer-Vorfelder, der DFB-Präsident, hatte den Weg zum feucht-fröhlichen Bankett gefunden, obwohl er in der Vorwoche doch noch mit den Bayern die Meisterschaft gefeiert hatte, wofür er zuvor im Stadion gehörig ausgepfiffen worden war. Nun aber war „MV“ konvertiert, jedenfalls schmetterte er das Vereinslied „Blau und Weiß, wie lieb ich dich“ aus voller Brust. Offenbar hatte er endlich zur richtigen Religion gefunden.