: Die Klassiker studieren
DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY
Jeder, der einem anderen einen Tausch anbietet, schlägt vor: Gib mir, was ich wünsche, und du bekommst, was du benötigst. Das ist stets der Sinn eines solchen Angebots, und auf diese Weise erhalten wir nahezu alle guten Dienste, auf die wir angewiesen sind. Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen – sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil. Niemand möchte weitgehend vom Wohlwollen seiner Mitmenschen abhängen, außer einem Bettler, und selbst der verlässt sich nicht allein darauf. Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen (1776)
Erst jetzt habe ich das berühmte Buch zum ersten Mal gelesen – nicht vollständig, denn es ist sehr dick und an vielen Stellen sehr speziell, also langweilig.
Als Lesezirkelmarxist, der auch ich, wenigstens teilweise, in den 70ern war, glaubte ich, Marx’ Kritik erspare die Kenntnisnahme des Originals – ja, diese Kenntnisnahme könne womöglich eine Art Vergiftung hervorrufen, weshalb alle Energie auf die fromme Lektüre des „Kapitals“ zu verwenden sei. Hier galten Berührungstabus, deren sich gerade der kritische Intellektuelle eigentlich schämen muss.
Was Adam Smith betrifft, so verblüfft die Lektüre durch die vielen Anleihen, die Marx bei ihm gemacht hat. „Tauschwert“ und „Gebrauchswert“ beispielsweise, ein echtes Schibboleth des Lesezirkelmarxisten, stammen als Wörter ebenso wie Kategorien von Adam Smith.
Was mir jetzt besonders auffiel, ist aber der ganz und gar andere Sound, mit dem Adam Smith vom Kapitalismus erzählt. Ist es bei Marx eine prophetisch inspirierte und zugleich begrifflich ausgekühlte Wut, so überwiegt bei Adam Smith eine Art Begeisterung für die frisch entdeckten Zusammenhänge. Klingt wie Alexander Kluge, befand Kurt Scheel:
„Man braucht sich nur die Ausstattung eines ganz gewöhnlichen Handwerkers oder Tagelöhners in einem entwickelten und aufstrebenden Land anzusehen, um sofort zu erkennen, dass die Zahl derer, die an seiner Versorgung beteiligt sind, [...] alle Schätzungen übertrifft. So ist die Wolljacke, die der Tagelöhner trägt, so grob und derb sie auch aussehen mag, das Werk der Arbeit vieler. Der Schäfer, der Wollsortierer, der Wollkämmer oder Krempler, der Färber, der Hechler, der Spinner, der Weber, der Walker, der Zuschneider und viele andere mussten zusammenwirken [...]. Wie viele Kauf- und Fuhrleute waren außerdem mit dem Transport des Materials von dem einen Handwerker zum anderen beschäftigt, der häufig weit entfernt lebt! Wie viel Handel und namentlich Schifffahrt, wie viele Schiffsbauer, Seeleute, Segelmacher und Seiler mussten eingesetzt werden, damit der Färber seine verschiedenen Rohstoffe bekommt“! Ein schöne Stelle, nicht wahr? Schon anlässlich eines ärmlichen Kleidungsstücks erblickt der Ökonom, der sich für den Zusammenhang des Ganzen interessiert, eine Weltlandschaft.
Gewiss fließt der Enthusiasmus von Adam Smith daraus, dass die Zusammenhänge frisch zu beobachten sind, dass er die Perspektive der aufsteigenden Klasse, des Bürgertums, einnimmt (während Marx’ kalte Wut sich aus der Perspektive der unterdrückten Arbeiterklasse ergeben soll). Es kommt aber noch etwas hinzu.
Das Eigeninteresse, dessen kluger Verfolg die komplexen wirtschaftlichen Zusammenhänge aufbauen soll – was Adam Smiths Analyse so befeuert –, dies Eigeninteresse besitzt in der englischen Tradition durchaus philosophische Dignität. Während ja unser Bundespräsident bloß von wirtschaftlichen Interessen zu reden brauchte, um deutlich zu machen, dass sie keinen, aber auch gar keinen Einfluss auf Gentechnologie und Biomedizin haben dürfen, und alle neokatholischen Frömmler applaudierten begeistert. Deutschland zeichnet vor dem Eigeninteresse stets kategorisch die Pflicht aus, was auch immer sie beinhaltet – bald, spottet unsere Freundin Jutta bösartig, diskutieren die Frömmler darüber, wie viele behinderte Kinder eine Frau gebären muss, damit die gesellschaftliche Solidarität erhalten bleibt ... Als der Bundeskanzler darauf verwies, wie die Neonazis dem Standort Deutschland schaden, drückte mir eine befreundete Dame ihre tiefe Bestürzung aus: als dürfe man einzig aus kategorischer Pflicht dem Neonazismus entgegentreten.
Schön zu beobachten ist bei Adam Smith, wie sich das Eigeninteresse mit persönlicher und politischer Selbstbestimmung verknüpft: Niemand möchte ausschließlich vom Wohlwollen seiner Mitbürger abhängen und seine Existenz, wie es an anderer Stelle heißt, „Unterwürfigkeit und Schmeichelei“ verdanken. Das ging gegen den Adel und die höfische Gesellschaft.
Aber es behält seinen moralischen und politischen Sinn: Wer möchte in dem Klientelsystem leben, das in Milošević’ Jugoslawien ebenso wie in Kabilas Kongo herrschte und das mit Suhartos Sturz in Indonesien gewiss nicht abgeschafft ist? Statt einen Beruf zu erlernen, statt zu arbeiten und zu wirtschaften, sucht der junge Mann – Frauen bleiben eh im Haus – einen Herrn, gegen dessen Fürsorge er auf Dauer seine Loyalität eintauscht, was zwar die Existenz sichert, ihn zugleich aber aller Selbstständigkeit beraubt. In diesem System ist dann Wohlwollen auch kein ethisches Gefühl mehr, sondern eine Art generalisiertes Medium, so etwas wie Geld.
Während Adam Smith, bevor er sich für den Wohlstand der Nationen interessierte, eine „Theorie der ethischen Gefühle“ (1759) verfasst hat. Weil er hinter dem Eigeninteresse keine schwarze Anthropologie vermuten muss, die sogleich ein Reich skrupelloser Egoisten errichten möchte, gruppieren sich Sympathie, Mitleid, Wohlwollen, Anteilnahme zwanglos um das Eigeninteresse herum. Die Moralphilosophie zielt, statt auf das Kategorische und die Pflicht, auf das Menschenmögliche. Zum Schluss noch so eine schöne Stelle:
„Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein. Ein Prinzip dieser Art ist das Erbarmen oder das Mitleid, das Gefühl, das wir für das Elend anderer empfinden, sobald wir dieses entweder selbst sehen oder sobald es uns so lebhaft geschildert wird, dass wir es nachfühlen können. Dass wir oft darum Kummer empfinden, weil andere Menschen von Kummer erfüllt sind, das ist eine Tatsache, die zu augenfällig ist, als dass es irgendwelcher Beispiele bedürfte, um sie zu beweisen; denn diese Empfindung ist wie alle anderen ursprünglichen Affekte des Menschen keineswegs auf die Tugendhaften und human Empfindenden beschränkt, obgleich diese sie vielleicht mit der höchsten Feinfühligkeit empfinden mögen, sondern selbst der ärgste Rohling, der verhärtetste Verächter der Gemeinschaftsgesetze ist nicht völlig dieses Gefühls bar.“
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