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III. Die Ärzte

Nicht nach Großhadern, sondern nach Gauting gehe ich. Das sei eine weltberühmte Lungenklinik, sagt man mir. Dort werde ich auf den Kopf gestellt, macht man einen Scan von meinem Körper, für den man durch eine Röhre geschoben wird. Man rät mir, zu Neujahr nach Hause zu gehen. „Feiern Sie mit Ihren Söhnen Silvester“, sagt Dr. Innsbruck, der Kollege von Dr. Krajewski. Meine Frau sagt später, sie habe an der Art, wie er das sagte, gehört, dass er die Diagnose bereits wusste.

Im neuen Jahr in Gauting werden wir zum Onkologen Dr. Paul vorgelassen. Er will mit beiden Ehepartnern reden. „Je mehr Familie, desto lieber“, erzählt Dr. Krajewski, als er uns zu ihm bringt. „Dr. Paul ist mein Lehrer.“ Dessen Zimmer ist dunkel und eng, sein Schreibtisch von Krankengeschichten und Spritzen in Nierenschalen aus Pappe überhäuft.

Chefärzte haben hier wie in Amerika nur kleine Zimmer. Dr. Paul hat weißes Haar, obwohl er, sein Gesicht zeigt es, noch jung ist. Zu ihm Kontakt zu bekommen fällt mir schwer. Ich weiß, dass man die Leute, deren Wissen man haben will, dazu bringen muss, einen zu mögen. Dr. Paul hat die Aufnahmen meiner Lunge an einer Leuchttafel befestigt.

Sieht sein Blick nicht vorwurfsvoll aus? Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir eine Störung in seinem Betrieb sind. Er hat sicherlich schon viele solcher Gespräche geführt. Es dauert eine Weile, bis ich begreife, dass auch der Chefarzt, auch ein Onkologe, nichts gegen meine Krankheit machen kann.

„Kurativ machen wir da schon gar nichts mehr“ ist einer der wenigen Sätze, an die ich mich noch erinnern kann. Meine Krankheit ist also nicht heilbar, höre ich. Ich nicke beflissen. So offen der Doktor auch ist – dass ich Tage später im Internet seinen Fachartikel über nichtkleinzelligen Lungenkrebs nachlese, scheint ihm überhaupt nicht zu gefallen. In seinem Text steht nichts anderes zu lesen, als dass die Überlebensrate im günstigen Fall bei fünfzig Wochen nach der Diagnose liegt, im ungünstigen Fall bei dreißig Wochen.

„Du bist keine Statistik“, sagt meine Frau entschlossen. „Du gehörst zu der Minderheit, die Lungenkrebs bekommen hat, obwohl sie nie geraucht haben, du wirst zu der Minderheit gehören, die entgegen aller Wahrscheinlichkeit gesund wird.“ – „Das Universum funktioniert so nicht“, erwidere ich, „so denken Spieler, die sich an den Roulettetisch setzen.“

Dr. Paul will mich für einen internationalen Versuch gewinnen, an dem die Klinik beteiligt ist. Im Doppelblindverfahren wird ein Medikament getestet, das mir helfen könnte. Bei der Bekämpfung dieser Krankheit probiert man also noch. Kein schönes Gefühl. Aber, ja, natürlich will ich in den Versuch. Da wusste ich noch nicht, dass es für die Aufnahme strenge Kriterien gibt – und ich sie nicht erfülle.

Jetzt erklärt mir Dr. Paul, dass nur der Apotheker weiß, ob man ein Placebo erhält oder das zu erprobende Medikament. Er hat noch viel mehr gesagt, aber erinnern kann ich mich nur an den Satz: „Gegen Ihre Krankheit bin ich als Arzt weitgehend machtlos.“ Was für ein Fortschritt: Vor dreißig Jahren hätten Ärzte nie Zweifel an sich und ihrer Arbeit aufkommen lassen. Könnten Ärzte heute einem nicht ein bisschen Hoffnung lassen und vielleicht etwas weniger ehrlich sein?

Als ich Dr. Paul später bei der Arbeit sehe, wundere ich mich, wie gut er mit bayerischen Patienten zurechtkommt. Da wird ein älterer Mann eingeliefert, der offenbar keinen Schlafanzug hat und stattdessen mit langer Unterhose durch die Gänge läuft. Er will rauchen und scheint verwirrt zu sein.

Dr. Paul ist der Einzige, der mit ihm umgehen kann. Er setzt ihn auf einen Stuhl, findet bei ihm eine noch gute Ader, injiziert Medikamente und hängt den Tropf mit der Infusion dran. Das ist es also, was die hier können: Chemotherapie.

Später wird Frau Dr. Dinkelbier meiner Frau sagen: „Bei dieser Krankheit kann man nicht viel falsch machen.“ Gefragt hatte meine Frau, was man gegen den Krebs vielleicht außer Chemotherapie noch machen könne – mit Ernährung und Vitaminen etwa. „Sie können tonnenweise Bananen oder Rindfleisch essen, Sie können es aber auch lassen“, sagt die Ärztin. Charmant, denke ich. Gegen meine Krankheit kann ich also nichts machen.

Dr. Dinkelbier gehört zu dem Team von vier Ärzten, die auf der Lungenkrebsstation Dienst tun. Dazu gehören zwei ältere und erfahrene Ärzte, Dr. Paul und Dr. Stellmacher, und zwei junge Ärzte, Frau Dinkelbier und Herr Kohlrausch.

Kennen lernen werde ich sie alle. Und allen gegenüber werde ich versuchen, mich als Musterschüler darzustellen, denn Chancen hat nur, wen die Ärzte mögen und um dessen Krankheit sie sich kümmern. Das weiß ich noch aus der Schule.

Dr. Dinkelbier ist hübsch, auch wenn ihr Gesicht ein wenig schief ist. Sie ist abweisend, wie es schöne Frauen meist sind. Traurig ist sie vielleicht deshalb, weil sie auf ihrer Station nur hoffnungslose Fälle kennen lernt. Menschen, an deren Krebs sich kaum etwas machen lässt, und Menschen, die sich für ihren Krebs meist nicht interessieren und damit für die Mühen von Dr. Dinkelbier auch nicht. (Das sollte ich im Laufe der Wochen und Monate noch lernen: Der Krebspatient weiß meistens über sein Leiden am wenigsten Bescheid.) Dr. Dinkelbier sieht aus wie eine Madonna, die das Leiden der Kranken auf sich nimmt. Wenn man sich ein wenig mit ihr unterhält, taut sie auf. Sie liebt es offenbar, als Frau angesprochen zu werden.

Sie lächelt, als könnte mich das gesund machen. Also ist es egal, was ich tue, geht mir durch den Kopf – solange ich mich an die Regeln der Chemotherapie halte, ist alles okay. Da hat sich die Medizin nicht gewandelt. Denn das können Krebspatienten wissen: Chemotherapie soll nicht wirklich heilen. Nur die Lebensqualität verbessern. Wenn sie nicht hilft, wird sie abgebrochen.

Dr. Dinkelbier scheint sich zu freuen, dass sie aus dem Einerlei der Routine herausgelöst wird und sich jemand verständig mit ihr unterhält. Auf der Krebsstation sind meist arme Menschen, die wenig Geld und noch weniger Bildung haben und kaum Interesse, sich über Krebs zu unterhalten. Die Ärztin scheint sich gerne zu unterhalten. Für sie wird das eine Art Hinwendung zum Patienten sein und des Patienten zu ihr. Dr. Paul, der Chemotherapeut, wirkt abgeklärter, weniger mitleidend. Ist er da weiter als seine Kollegin?

Ich komme nicht in den Versuch. Weil ich im Kleinhirn schon eine Metastase habe. Das hat eine umfangreiche Untersuchung ergeben, die am Anfang jeder Versuchsteilnahme steht. Dr. Paul, zu dem ich diesmal zusammen mit meiner Frau und meinen beiden angereisten Söhnen gehe, versucht mich zu trösten. „Der Versuch wird mit dem klassischen Cocktail Gemzetabine und Cisplatin gemacht“, erklärt er. (Nebenbei: Mit den Namen der Medikamente jongliere ich bald so, als hätte ich mein Lebtag nichts anderes getan. „Cis wie cis-Moll und Platin wie Gold“, erläutere ich einem Bekannten am Telefon). Und: „Man will vermeiden, dass Verbesserungen bei der Verwendung des neuen Mittels auf die Weiterentwicklung von Cisplatin oder einem anderen Cocktailbestandteil zurückgehen.“

Er spricht wie zu einem Kollegen: „Die Therapie mit den beiden klassischen Substanzen ist hart. Die Chemotherapie mit Carboplatin, einer Weiterentwicklung von Cisplatin, wird besser vertragen. Es wird einem nicht so übel, wogegen es heute übrigens auch Medikamente gibt. Es fallen einem nicht die Haare aus, man leidet nicht so. Die neue Therapie macht man auch quasi ambulant.“ Ich frage mich, ob ich über meine Metastase im Kopf glücklich sein soll.

Meine Frau erinnert mich an ein Theaterstück, das wir in Washington voriges Jahr gesehen haben und das es mittlerweile auch in einer Filmfassung mit Emma Thompson in der Hauptrolle gibt. Dort ging es um die Krebstherapie einer kranken Englischprofessorin. Arzt und Professorin waren gleichermaßen penibel – und im Grunde unmenschlich nüchtern. Die Patienten des einen wurden wie die Schüler der anderen behandelt.

Die Frau starb schließlich, und im Eisenhower Theater in Washingtoner John F. Kennedy Center weinten viele, so ergreifend war das Leiden der Professorin dargestellt.

Sie lebte und starb letztlich für die Wissenschaft, ein anderes Interesse hatte der junge Arzt an ihr nicht. Ich sollte froh sein, nicht Bestandteil eines Versuchs zu sein.

Also gut, ich bin’s zufrieden. Keine Teilnahme an einem medizinischen Versuch. Mein Giftcocktail besteht aus Kortison, Carboplatin, Vinblastin und Mitomyzin.

Letzteres ist derart aggressiv, dass man es bei jeder dritten Therapie weglässt. Außerdem bekomme ich vorher Novoban gegen die Übelkeit. „Die Therapie dauert ein Jahr und verlangt einem viel ab, aber die Heilungsaussichten sind sehr, sehr gut.“ Das sagt Dr. Stellmacher am Ende meiner ersten Chemotherapie.

Leider sagt er es nicht zu mir. Ich höre, wie er in seinem mit Röntgenmappen voll gestellten Zimmer, in dem er mich untersucht, jemandes Frage am anderen Ende der Telefonleitung beantwortet. Bei dem geht es um Keimzellen- oder Hodenkrebs.

Mir sagt Dr. Stellmacher lapidar: „Leben Sie, als wenn jeder Tag Ihr letzter sein könnte. Gespräche, die ich nicht gerne führe, sind solche über die Zeit, die einem bleibt. Ich sage immer, vergessen Sie die Zukunft und lernen Sie, in der Gegenwart zu leben. Machen Sie, was Sie schon immer machen wollten. Wenn Sie mal nach Italien fahren wollten, dann tun Sie’s jetzt. Wer weiß, ob Sie es sonst noch mal können.“

„Da würde ich gerne leben“, antworte ich ihm. „Dort ist es besonders schön“, sagt Dr. Stellmacher, „nur weiß ich nicht, wie die Krankenkassen sich da verhalten.“ „Und Amerika?“ frage ich. Dr. Stellmacher sagt leise, hier in Deutschland sei ich schon besser aufgehoben, schon allein aus versicherungstechnischen Gründen.

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