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Joschka und die SiebzigerjahreÜber Motive und Triebkräfte der Revolte

Von Christian Semler

Erstveröffentlichung in: Kommune Nr. 6/ Juni 2001

Mit „Ach, Achtundsechzig“ eröffnete Gerd Koenen in der Kommune 2/01 die Diskussion um Impulse und Folgen von 1968 ff. Nun ist sein Buch „Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967- 1977“ erschienen. Christian Semler nimmt in seinem Beitrag implizit und stellenweise explizit Bezug auf Gerd Koenens Sicht des „roten Jahrzehnts“. Für Christian Semler ist es eine Zeit, die neben allen Irrungen und Wirrungen auch eine „Erfolgsgeschichte“ bildet: die eines produktiven Bruchs im Angesicht des Scheiterns.

Ist der Zeitzeuge der geborene Feind des Zeithistorikers? Das ist ziemlich sicher, auch und gerade, wenn er dem Milieu der radikalen Linken der Sechziger- und Siebzigerjahre entstammt. Was er zu sagen hat, dient entweder dem Wunsch, die individuelle Biografie zu schönen, ihr so etwas wie Sinn, wie Identität im Lebenszyklus zu verleihen. Oder der Zeitzeuge versucht im Gegenteil, seine Zeit als radikaler Linker zu einem monströsen Irrweg zu stilisieren, aus dem er – früher oder später – aufgewacht sei, um wieder in den Hafen der Menschlichkeit zu gelangen. Dennoch aber ist Zeitzeugenschaft gerade für diese Dekade unverzichtbar.

Stellen wir uns bitte vor, ein Historiker würde ausschließlich auf der Basis der schriftlichen Quellen, also der Berge von gedruckten Materialien, ein Urteil über die damalige radikale Linke fällen wollen. Zweifellos käme er zu dem Schluss, es hier mit extremen Sektierern zu tun zu haben, denen jeder Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit abhanden gekommen ist. Wenn hingegen der Zeitzeuge spricht, ist zwar immer das Bedürfnis nach Selbstverherrlichung oder Selbstverdammung oder beidem präsent. Es kommen aber – und das hängt entscheidend vom Zuhörer ab – oft auch die damals involvierten Personen vielfältig und farbig zur Sprache. Wir erfahren etwas über ihre intellektuelle Entwicklung, über Beziehungsgeflechte, über die starken und oft dunklen Leidenschaften, von denen die Akteure getrieben waren, schließlich auch über ihre utopischen Hoffnungen. Von all dem ist wenig schriftlich niedergelegt worden, auch nicht in literarischer Form.

Wenden wir uns jetzt für einen Augenblick dem Handwerkszeug zu. Die Siebzigerjahre bezeichnen eine Dekaden-Periodisierung, die auf einen Generationenzusammenhang verweist, aber nicht den der „70er“, sondern der „78er“, analog zu den „68ern“. Dann haben wir noch die „89er“.

Zu diesen Generationszusammenhängen hat Ulrike Winckelmann kürzlich in der taz einen instruktiven Aufsatz geschrieben. Sie ruft dabei einen bedeutenden Soziologen, Karl Mannheim, auf. Ihm zufolge bildet jeweils eine Jahrgangskohorte eine (politische) Generation, die durch eine gemeinsame politisch-kulturelle Sozialisation, eine Weltsicht, verbunden ist. Diese Weltsicht wird durch Generations-Avantgarden formuliert und gelebt. Das ist eine Art Zwangszusammenhang, der objektiv wirkt.

Von den 1945 Halbwüchsigen sprechen wir als der Flakhelfer- oder HJ-Generation. Zu ihr gehört Helmut Kohl. Diese Generation ergreift in der Nachkriegszeit ihre Chance, glaubt an den Neuanfang, arbeitet wie besessen, fühlt sich subjektiv als Träger des Nachkriegsaufschwungs, ist den dezimierten Jahrgängen, die im Krieg waren, zwar nicht politisch, aber in den Vorstellungen, was ein deutscher Mann und eine deutsche Frau tun und was sie besser lassen sollten, sehr verbunden. Der Historiker Alexander von Plato hat nachgewiesen, dass beispielsweise die Führungsschicht der Gewerkschaften im Ruhrgebiet während der Siebzigerjahre dieser Flakhelfer-Generation entstammte. Das ist wichtig, um den Zusammenprall der radikalen Linken mit diesen Gewerkschaftsführern in dem fraglichen Zeitraum besser zu verstehen.

Mit den Flakhelfem sich überschneidend wächst in den Vierzigeijahren die „skeptische Generation“ heran, wie der Soziologe Helmut Schelsky sie genannt hat. Sie ist skeptisch gegenüber Ideologien, Heilserwartungen, vor allem aber gegenüber jedem politischen Engagement. Dann folgen die „68er“. Analog zu den „68ern“ hat sich, auch in der empirischen Sozialforschung, der Begriff der „78er“ eingebürgert. Bei dieser Generation wird nicht mehr auf radikale Revolution, sondern auf Bewahrung und Schutz abgestellt, nicht mehr auf die Vorherrschaft des Wortes, sondern aufs Gemüt. Nicht mehr aufs Ganze, sondern auf Parallel- und Subkulturen. Die „78er“ haben sich den gesellschaftsverändernden Impuls der „68er“ erhalten, aber ins Friedliche transformiert. Sie sind „grosso modo“ dialogisch und gewaltfrei. Die Jahresangabe 78 verweist auf Daten wie den Tunix-Kongress desselben Jahres. Aber es wäre natürlich sinnvoller, die großen Demonstrationen gegen die AKWs, also 76, als Bezugspunkt zu nehmen.

Der Vergleich der „78er“ mit den „68ern“ fordert etwas zutage, was man früher einen „Paradigma-Wechsel“ nannte. Die „68er“ glaubten, alles sei machbar, wenn die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse beseitigt, der Sozialismus gesiegt und an die Stelle der kapitalistischen Pseudo-Demokratie die Herrschaft der Arbeiterklasse getreten sei. Die „78er“, die dem Kapitalismus und seinem Staat ebenfalls kritisch gegenüberstanden, glaubten, dass der Prozess der Naturzerstörung schon viel zu weit fortgeschritten war, um Raum für die Produktivitäts-Fantasien der radikalen Linken zu lassen. Sie sahen bei Bewahrern wie bei Kritikern der kapitalistischen Produktionsweise den gleichen verderblichen Industrialismus, den gleichen Fetisch des Wachstums am Werk. Hinsichtlich des Verhältnisses zur Staatsmacht setzten die „78er“ auf klassenübergreifende soziale Bewegungen, die die Regierung samt ihrer Klientel zum Einlenken zwingen könnte. Das war eine Variante des traditionellen Reformismus, allerdings eine, in der die Eroberung der Staatsmacht mit friedlichen Mitteln nicht mehr im Zentrum stand.

Es gab zwar Vermittlungsversuche zwischen der alten und der neuen Sicht der Dinge. Der Kommunistische Bund (KB), eine der größten der maoistischen Organisationen, hat sich ebenso lang wie vergeblich mit diesem Integrationsmanöver herumgeschlagen. Aber im Kern hat die ökologische Sicht der marxistischen in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre den Boden unter den Füßen weggezogen. Das ökologische Denken entsprach dem spontanen Bewusstsein der intellektuellen Mittelschichten mehr als der Marxismus. Es hatte auch mehr zu tun mit der Wirklichkeit.

Seit der Konstruktion der „78er“ geht es mit der politischen Generations-Dekadenbestimmung abwärts. Die „89er“ sind ursprünglich eine Retortengeburt. Man nahm an, dass ein derart tiefer Einschnitt wie der Zusammenbruch des Realsozialismus und die deutsche Einheit die damals heranwachsende Generation prägen würde. Das war ein Irrtum. Pech für die konservativen Theoretiker, die sich von der Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaats weitgehende ideologische Wirkungen versprachen. In der empirischen Sozialforschung, beispielsweise in den Shell-Studien, hat man als das Bestimmende für die „89er“ Utopieverlust, Misstrauen gegenüber institutionalisierten Autoritäten, Einsicht in die Zwänge des Arbeitsmarktes, einen kritisch-realistischen Blick auf die Verhältnisse ausgemacht. Anstelle des politischen Arguments tritt, wie die Soziologin Gabriele Klein in einer glänzenden Arbeit dargelegt hat, der Ausdruck der Körper, die „Electronic Vibrations“. Im Begriff der „Techno“-Kultur zeigt sich, dass der Generationenzusammenhalt jetzt immer mehr über Konsumverhalten und durch marktvermittelte Idole und Zeichen hergestellt wird, nicht mehr über eine politische Weltsicht.

Jetzt zum Begriff der „68er“. Warum heißen die „68er“ eigentlich so und nicht vielmehr „67er“, was auf das entscheidende Datum des 2. Juni 1967 verweisen würde, als nach den Demonstrationen gegen den Schah-Besuch und dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg sich die Basis der Studentenbewegung sprunghaft erweiterte? Ich weiß es nicht. Vielleicht war eine Analogie zu den Trägern der Revolution von 1848, den „48ern“, im Spiel. Die Revolution und die Revolte. Beiden gemeinsam ist, dass es sich um Ereignisse handelte, die sich in einem sehr zusammengedrängten Zeitraum und in einer Reihe wichtiger Länder fast gleichlaufend abspielten. Beide Bewegungen endeten mit einem Desaster, wenn man von den jeweiligen Zielsetzungen ausgeht, nämlich demokratische beziehungsweise sozialistische Revolution. Beide hatten extreme gesellschaftliche Wirkungen, die von den Akteuren nicht oder nicht so gewollt gewesen waren. Beide hatten zum Teil die gleichen Verarbeitungsbegriffe. „Realpolitik“ kam in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts auf, in der Bundesrepublik, zugleich als „Realos“ auf die Anhänger gewendet, in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre. In beiden Erhebungen brachten es Revolutionäre oder Revolteure später zu hohen Staatsämtern. Andererseits wurden in beiden Bewegungen weit ausholende Konzepte formuliert. Das „Kommunistische Manifest“ von 1848 formulierte zum ersten Mal die Idee vom weltweiten Sieg des Kapitalismus, der damit gleichzeitig zu seinem eigenen Totengräber wird, weil er die antagonistische Klasse, das Proletariat, hervorbringt. Das war mehr Poesie als Empirie, aber wegweisend. Eine ähnliche Funktion hatte der „Internationalismus“ für die Bewegung von 1968. Auch hier war mehr Phantasie am Werk als Realität, aber auch hier waren die Fernwirkungen beträchtlich. Die heutigen Auseinandersetzungen über den Charakter der Globalisierung und die Auseinandersetzung über den Weg, wie man am Besten seiner negativen Folgen Herr wird, haben beim Internationalismus der 68er ihren Ursprung und nicht bei den Theoretikern des „Club of Rome“. Der Soziologe Hans Bude definiert die Zehn-Jahres-Kohorte der 68er durch die Jahrgänge 1938 bis 1948. Das ist zwar etwas subjektiv, bietet aber den Vorteil der Handhabbarkeit. Zum Beispiel sind sowohl ich – geboren Dezember 1938 – als auch Joschka Fischer – geboren April 1948 – noch Kohortenmitglied, wenngleich beide an den entgegengesetzten Zeiträndern. Welche Impulse waren in dieser Kohorte wirksam? Natürlich unendlich viele, wenn man bedenkt, dass selbst eingefleischte Karrieristen, wie der Berliner Bürgermeister und vormalige RCDS-Aktivist Eberhard Diepgen, sich heute als 68er, wenigstens aber als 68er-Alternative bezeichnen. Wenn wir vom politischen Vortrupp, jetzt nicht im Sinn Lenins, sondern in dem beschriebenen Sinn von Mannheim, ausgehen, so behaupte ich, dass die Vision der Gleichzeitigkeit und Gleichörtlichkeit politischer Prozesse zu ihren wesentlichen Charakteristika gehört. Das mutet heute befremdlich an und ist es auch.

Die damaligen linken Aktivisten imaginierten sich einen Globus, der sich beständig nach links dreht (was übrigens geografisch der Wirklichkeit entspricht). Deshalb waren die zeitlichen und räumlichen Vorstellungen, die traditionell die linken Bewegungen inspiriert hatten, weitgehend außer Kraft gesetzt. Dieses traditionelle Koordinatensystem war in zeitlicher Hinsicht durch die Vorstellung von Etappen bestimmt, die der revolutionäre Prozess auf Grund objektiver Gegebenheiten zu durchlaufen hatte. In Deutschland beispielsweise war nach traditionalistischer Auffassung das Etappenziel „antimonopolistische Demokratie“ dran. In räumlicher Hinsicht, bezogen auf die Ausdehnung des revolutionären Prozesses, ging es um die Einheitsfronttaktik, die die Arbeiterklasse zusammenschweißen sollte, und die Volksfronttaktik, die die Bündnisschichten umgreifen sollte, die sich um die Arbeiterklasse herumlagerten. Sodass das Monopolkapital als einziger Gegner übrig blieb. Nach dem Sieg der Revolution wurden erst die Grundlagen des Sozialismus aufgebaut, dann der allseits entwickelte Sozialismus, dann der Kommunismus, wiederum unterteilt in zwei Etappen. Das Ganze nannte sich wissenschaftlicher Sozialismus/Kommunismus und war verbindliche Doktrin in den realsozialistischen Ländern.

Wir aber gingen, wie es in der Gründungserklärung der linkskommunistischen Gruppe „II Manifesto“ hieß, von der „Aktualität des Kommunismus“ aus. Für uns war der weltweite Kapitalismus überreif für die Revolution. Daher sahen wir von Mexiko bis Warschau und Prag wesentlich gleichgerichtete Kräfte am Werk. Im Reich des Realsozialismus hatte unserer Meinung nach die Revolution hauptsächlich eine antibürokratische Komponente, egal ob einige von uns die Bürokratie als entartete Funktionärsschicht ansahen, wie es die Trotzkisten taten, oder als neue Kapitalistenklasse, wie die Maoisten meinten.

Aus der wesentlichen Gleichförmigkeit des weltrevolutionären Prozesses folgte für viele von uns, dass es möglich war, auch subjektive Gleichzeitigkeit herzustellen. Als 1968, während der Tet-Offensive der Vietnamesen, die Fahne des Vietcong über der Zitadelle von Hue wehte, war das ebenso unser Sieg wie es wenige Monate später die Barrikadenkämpfe der französischen Genossen in Paris waren. All das vermittelte eine Art halluzinatorischer Bewegung, eine permanente Aktivität, eine Ruhelosigkeit, die sich auch in den kargen Ferien fortsetzte, die zu Zwecken des Revolutionstourismus genutzt wurden. Nur wenn man diesen emotionalen und gedanklichen Zusammenhang versteht, wird man richtig einschätzen können, warum die Erfahrungen der Vietnamesen, der Chinesen oder der Kubaner für die radikale Linke so wichtig waren. Die triviale These, je weiter weg, desto leidenschaftlicher die Identifikation, stimmt eben so nicht. Denn alles war gleich nah.

Mit dieser Vorstellung des Internationalismus hing der Gedanke der Vorwegnahme, der Antizipation, eng zusammen. Wie sollten die kommunistischen, neuen Dinge in die Welt kommen, kraft objektiver Prozesse oder kraft der Willensanstrengung begeisterter Aktivisten? Es war klar, sie mussten eingepflanzt, erprobt werden, und zwar noch unter der Vorherrschaft der Konterrevolution. Hier liegt der Ursprung für die Theorie der „befreiten Gebiete“, eine Metapher, die dem Volkskrieg in der Dritten Welt entlehnt war, aber auch auf die kapitalistischen Länder übertragen wurde. Befreites Gebiet, und wenn auch nur für eine kurze Zeit, sollte beispielsweise die Uhrenfabrik Lip in Frankreich sein, wo die Arbeiter selbstbestimmt in einer pleite gegangenen Firma die Produktion übernommen hatten. Befreites Gebiet waren tatsächlich die Universitäten, viele Schulen, manche Abteilungen von Kliniken, Berufsverbände, eine Reihe Pfarreien. Befreites Gebiet sollten auch die Wohngemeinschaften sein, die Kommunen, in denen neue, solidarische Lebenszusammenhänge erprobt werden und die die Basis für Aktionen der revolutionären Bewegung abgeben sollten. Damals, in den späten Sechzigerjahren, war die Auffassung weit verbreitet, dass die Revolutionierung der Gesellschaft die Revolutionierung der Revolutionäre voraussetze. Der Wortgläubigkeit dieser Generation folgend entwickelte sich auf intellektuellem Gebiet eine sehr breite Studien- und Forschungsbewegung, deren Karikatur, die endlosen Marx-Seminare, uns rückblickend erheitern. Entscheidender war der Aspekt der Lebensreform, der Bruch mit einer unterhalb des Ökonomisch-Politischen wuchernden autoritären Charakterstruktur. Die Kinderläden, die antiautoritäre Erziehung – hier haben sie ihre Wurzeln. Wo die „autoritäre Persönlichkeit“ mit dem Prinzip des Patriarchats identifiziert wurde, also in der feministischen Bewegung, schuf sich der Anti-Autoritarismus stabile und gleichzeitig flexible Strukturen, die über ein Jahrzehnt lang eine unerwartete und viel bestaunte Lebenskraft entwickelten. Wo aber solche Zusammenhänge nicht existierten, waren die Revolutionäre oft mit der Aufgabe überfordert, gleichzeitig sich selbst und „die Massen“ aus dem bürgerlichen Sumpf zu ziehen.

Wie ist es eigentlich erklärbar, dass für viele radikale Aktivisten, die den eben beschriebenen Vorstellungen anhingen, die chinesische Revolution und Mao selbst zum Fixstern wurden? Wie ist ferner zu verstehen, dass der Maoismus in den späten Sechzigerjahren bis weit in die Reihen der bürgerlichen Intelligentsia, bis in die Spalten der Süddeutschen Zeitung hinein nachgerade zu einer Modeerscheinung avancierte? Zweifellos war dies die Folge der Interpretation, die wir der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ angedeihen ließen. Viele Linksradikale sahen in der damaligen Bewegung den Versuch, einen erstarrten, dem Kapitalismus verfallenen Funktionärskörper beiseite zu fegen, den Staatsapparat basisdemokratisch zu erneuern und durch dieses tollkühne Abenteuer den Sozialismus, den „wirklichen“ Sozialismus, überhaupt erst zum Leben zu erwecken. Es ging um das „zweifache Brechen“ – den Bruch mit der überkommenen Weise zu produzieren und den Bruch mit den überlieferten Ideen. Auf den Kapitalismus bezogen bedeutete dies nicht weniger, als der Herausbildung der Arbeitsteilung, dem Entstehen und der Festigung gesellschaftlicher Sub-Systeme die innere Notwendigkeit zu bestreiten. Für die Kulturrevolution einzutreten, hieß damals (nicht nur für die radikal linken) Intellektuellen, auf Statussymbole und Privilegien zu verzichten, gleich den russischen Narodniki unter die Leute zu gehen, „dem Volk zu dienen“. So wurde die große Verschickungsaktion der jungen chinesischen Intellektuellen aufs Land bei uns interpretiert. Der große utopische Entwurf, den Marx in der „Kritik des Gothaer Programms“ und vorher in den Kommune-Schriften (warum heißt die Zeitschrift Kommune Kommune?) entworfen hatte, in China schien er zur Wirklichkeit zu werden. Dass die reale Entwicklung Chinas seit 1976 eine so ganz andere Richtung genommen hat, trug nicht wenig zum Zerfall der K-Gruppen in den späten Siebzigerjahren bei.

Die Krise der 68er-Bewegung wurde deshalb von vielen der Radikalen nicht als Niedergang, sondern als Aufbruch gedeutet – als Aufbruch ins Proletariat, in eine neue, imaginierte Gemeinschaftlichkeit. Dieser Aufbruch kam sicher zum Teil aus der Überforderung, den überspannten Wünschen, aus denen sich viele Revolutionäre in den Hort autoritärer Geborgenheit der verschiedenen revolutionären Kadertrupps flüchteten – sofern sie nicht die sicheren Grenzen eines geschützten subkulturellen Milieus vorzogen. Aber der Hauptgrund der Krise lag im großen Erfolg der Bewegung. Allenthalben wurde die Notwendigkeit verspürt, die Grenzen der universitären oder der schulischen Revolte zu verlassen. Dieses Bewusstsein verschwisterte sich mit der Furcht vieler Aktivisten, die Revolte könnte von der Wucht der kapitalistischen Jugendkultur überrollt werden, die seit den Sechzigerjahren, Motive der Revolte aufgreifend und sie konsumistisch abbiegend, die westliche Welt überschwemmte. Jetzt zeigte sich die Doppelnatur der jugendlichen Linksradikalen. Sie schwammen auf den neusten Errungenschaften der kapitalistischen Technikentwicklung, nahmen die gegenwärtige, weltweite Kommunikationsgesellschaft in der Praxis vorweg. Intuitiv erfassten sie die Bedeutung der neuen Währung „Aufmerksamkeit“. Sie dirigierten virtuos das Medienorchester. Aber gleichzeitig fürchteten sie, dass sich eine weltweite Käseglocke über die Menschen senken werde, dass der „one-dimensional man“ das Schreckensbild der Zukunft abgeben werde. Letztlich teilten sie das Menschenbild der klassischen deutschen Philosophie, die auf der Selbstverwirklichung der Individuen beharrte oder wie Friedrich Engels es ausdrückte, auf der Idee, dass die Befreiung des Einzelnen die Bedingung für die Befreiung aller sein müsse – und nicht umgekehrt. Hierzu bedarf es allerdings der Reife – mithin der Zeit. Aber der Druck des „Immer weiter“ erwies sich als so stark, dass Ermahnungen, alle Aktivitäten vorübergehend einzustellen und eine gründliche Denkpause einzulegen, auf keinerlei Resonanz stießen. Und dies, obwohl sie von allseits Verehrten wie dem Theologen Gollwitzer mit Nachdruck vorgebracht worden waren.

Was folgte, war die bekannte Zersplitterung der Revolte zu Beginn der Siebzigerjahre. Ihre Auflösung in sich rastlos bekämpfende Gruppen und Parteien, ihren vollständig gescheiterten Versuch, Kernschichten des Proletariats zu organisieren. Die wenigen aus der Arbeiterklasse stammenden Aktivisten der „68er“ haben diesem Organisationsversuch stets vollständig fassungslos gegenübergestanden. Sie wussten aus der eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrung, dass die deutsche Arbeiterklasse eben doch weit mehr zu verlieren hatte als ihre Fesseln.

Die beiden großen Zentren der 68er-Revolte, nämlich Frankfurt und Berlin, entwickelten sich, was die radikale Linke angeht, in den frühen Siebzigerjahren nur scheinbar in entgegengesetzter Richtung. In beiden Städten wurde zum Angriff auf die Bastionen des Großkapitals, also die Großbetriebe, geblasen, wobei der Arbeit im „Reproduktionssektor“, also allem, was sich außerhalb der Fabrik abspielte, nur eine sekundäre Rolle zufiel. Obwohl diese Anstrengungen in Berlin hauptsächlich unter maoistischer, in Frankfurt zunächst hauptsächlich unter spontaneistischer Führung standen, ähnelten sie sich in ihren Verlaufsformen, ihren scheinhaften Erfolgen wie in ihrer schließlichen Niederlage wie ein Ei dem anderen. Hier wie dort gab es die wenigen betrieblichen Kader, entweder in den Betrieb geschickte Intellektuelle oder durch die vorangegangene Revolte mobilisierte Arbeiterinnen oder Lehrlinge. Sie wurden von den „Außenkadern“, wie sie in Frankfurt hießen, als Hilfstruppen unterstützt. Hier wie dort gab es die gleichen Illusionen über die Kampfbereitschaft der jüngeren Kollegen, über die Auswirkungen der Krise von 1972/73, über die Kampfgemeinschaft deutscher und ausländischer Kolleginnen im Zeichen einer entstehenden „multinationalen“ Arbeiterklasse.

Natürlich gab es auch gravierende Unterschiede. Die Frankfurter Spontis hatten sich mehr bewahrt von dem ursprünglichen emanzipatorischen Impetus, sie hielten an der Idee der Selbstverwirklichung im Kampf fest, waren nicht so resistent gegenüber den Verlockungen des Lebens wie die Dogmatiker. Sie lehnten den Asketismus der MLer ab, die Mimikry ins Proletariat. Sie erlagen auch nicht der Versuchung, in Stil und Form auf die Vorstellungswelt und die Kampfformen der alten Arbeiterbewegung zurückzufallen. Das kam daher, dass in ihnen nicht das brennende Verlangen wirksam war, die verlorenen Kämpfe der Weimarer Zeit noch einmal zu durchleben. Sie wollten nicht „mit den Toten sprechen“, sie wollten die Niederlagen nicht rächen. Dieser ganze Habitus der Dogmatiker war für sie nichts als Kostümierung, eine inszenierte Kunstwelt, an der ihrer Meinung nach nicht umsonst so viele Theaterleute mitwirkten.

Zur Frage der parlamentarischen Demokratie wiederum waren die Unterschiede zu den K-Gruppen so weit nicht. Rechtsstaat, Gewaltenteilung und die Allgemeinheit der Grundrechte waren für alle revolutionären Gruppen mit Ausnahme des Sozialistischen Büros nur Plunder, der nach der Revolution der sozialistischen Demokratie in Form der Räte beziehungsweise der Sowjets weichen musste. Dieses scheinbar erweiterte, in Wirklichkeit aber selektive Verständnis demokratischer Prozesse war Ausdruck einer falschen Unmittelbarkeit, die Verlängerung des Versammlungs-Demokratismus der Studentenbewegung, ein kurzschlüssiges, gefährliches Projekt, eigentlich ein Produkt der politischen Romantik.

Es fiel „den Frankfurtern“ auch leichter, sich nach dem Scheitern der betrieblichen Agitation auf die Reproduktionssphäre zurückzuziehen, was konkret die Teilnahme am Häuserkampf bedeutete. „Häuserkampf“ und „Revolutionärer Kampf“ bildeten daher zunächst keine Gegensätze. Andererseits hatte diese stärkere Kontinuität zu 68 auch ihre Fallstricke. Die Bewegung der K-Gruppen hatte sich gerade noch rechtzeitig aus der Spirale ausgeklinkt, die jede Diskussion über militante Kampfformen beinhaltete.

Theoretisch bestand kein Gegensatz in der Bejahung revolutionärer Gewalt, auch dass Gewalt stets „Gewalt durch die Massen“ sein müsse. Aber der Trennungsstrich, der von den Dogmatikern schon 1970 zum sich organisierenden Terrorismus gezogen wurde, war bei den Spontaneisten bei weitem nicht so dick. Es gab eine Grauzone, in der die verschiedenen terroristischen Organisationen neue Mitstreiter rekrutieren konnten, es gab offene, öfter noch verstärkte Sympathie. Hier ist es angebracht, einen Augenblick lang über das Verhältnis der Sturmzentren der linksradikalen Bewegung, also Frankfurt und Berlin, zu den anderen Zentren, vor allem aber zur westdeutschen Peripherie, nachzudenken. Zwar vollzogen sich die Spaltungen der radikalen Linken in der Provinz getreulich nach dem Vorbild der Metropolen. Aber die ursprünglichen Freundschaften und Arbeitszusammenhänge trennten sich hier nicht so säuberlich auf. In Frankfurt, Berlin, in Hamburg und Köln wurde heiß gekocht, in der Provinz kam die Nahrung wohltemperierter an. Der Zusammenhang mit der kapitalistischen Subkultur, dem wir zu entrinnen hofften, er war in den mittleren und kleineren Orten viel fester geknüpft. Man interessierte sich oft nicht allzu sehr für Haarspaltereien, man war ohne den vieltausendköpfigen linken Sympathisanten-Puffer viel unmittelbarer den Schlägen der Machthaber ausgesetzt. Es gab Missverständnisse – manchmal sogar produktive. Und der ständige linke Zustrom aus der Provinz in die Sturmzentren sorgte dafür, dass der Weg kurz blieb von Wyhl, Brockdorf und Kalkar in die Metropolen.

Die K-Gruppen sind so gründlich gescheitert, dass ihre Protagonisten oft ein Jahrzehnt brauchten, um mit dem vorangegangenen „roten Jahrzehnt“ fertig zu werden. Die linke Version des Anti-Totalitarismus, der sich viele von ihnen zuwandten, die Unterstützung, die sie den osteuropäischen Freiheitsbewegungen oft angedeihen ließen, waren und sind Ausdruck eines langwierigen, oft quälenden, oft auch peinlichen Läuterungsprozesses. Derartiges haben die Spontis nie durchmachen müssen. Es gab für sie eine Art gleitenden Übergang zu den neuen sozialen Bewegungen, später zur grünen Partei. Dass Joschka Fischer jetzt so jäh mit seiner militanten Vergangenheit konfrontiert worden ist, hat auch viel mit dem schmerzlosen Übergang von damals zu tun, mit dem allzu lang praktizierten augenzwinkernden Hinweis auf die vergangene „Kampfzeit“, kurz: mit der Bruchlosigkeit. Diese Zusammenhänge herausgearbeitet zu haben, gehört zu den starken Seiten von Gerd Koenens Buch Das rote Jahrzehnt.

Wie kann die berühmte „Dialektik von Bruch und Kontinuität“ gemeistert werden? Offensichtlich nicht auf die Art und Weise, die Joschka Fischer heute vorexerziert. Wenn alles, was in den Siebzigerjahren geschah, auf Militanz reduziert wird, wenn die Siebziger bis zum Sieg der ökologischen Bewegung nur Degeneration und Verfall bezeichnen, dann gibt es natürlich nur eins: den entschiedenen Bruch. Aber so ist es nicht. In der Ablehnung des bürgerlichen Parlamentarismus verbarg sich eine im Kern berechtigte Kritik am hypertrophen Parteienstaat, eine Kritik, die heute auch von vielen liberalen Forschern geteilt wird. Selbst der SPD-Generalsekretär Müntefering will heute seine Partei den Initiativen und Bürgerbewegungen öffnen. Die Forderungen nach Vergesellschaftung der Produktionsmittel enthielten die These von der zunehmenden Herrschaft des Finanzkapitals über den Produktionsprozess, die „Immaterialisierung“ der Produktion im Zeichen der international organisierten Finanzmärkte, die heute die Kritiker der Globalisierung antreibt. Für die „Tobin-Steuer“ treten heute nicht nur eingefleischte Altlinke ein. Arbeitslosigkeit hat sich als ein Strukturmerkmal auch in den entwickelten Industriegesellschaften herausgestellt. Eigentlich wäre es die Aufgabe der damaligen Aktivisten, über Richtig und Falsch in der damaligen Zeit nachzusinnen. Das geschieht nicht. Auch Gerd Koenen unterzieht sich keinen Augenblick lang einer solchen Anstrengung. Ganz wie in theologischen Traktaten strebt er aus der Dunkelheit maoistischer Verderbnis zum Licht empor, in seinem Fall zur Identifikation mit den osteuropäischen Freiheitsbewegungen. Gut, auch am „Umerziehungsprozess“ meiner maoistischen Gruppe waren in den späten Siebzigern osteuropäische Demokraten führend beteiligt. Wie auch viele ehemalige Maoisten meines Umkreises in den Achtzigerjahren in der „Osteuropa-Solidarität“ arbeiteten. Aber nach dem Völkerfrühling von 1989 hat die Härte des Übergangs zu Markt und Privateigentum das vormals-demokratisch-oppositionelle Lager differenziert. Angesichts des antitotalitären Kampfs haben scheinbar obsolete Kategorien wie links und rechts ihre Bedeutung zurückgewonnen. Statt schwärmerisch-sentimentaler Rückerinnerungen über den „Weg ins Freie“ wäre auch hier eine selbstkritische Reflexion angebracht.

Einen Fehler indes begeht Koenen nicht. Er widersteht der Versuchung, die Sechzigerjahre für großartig, die Siebzigerjahre hingegen für scheußlich zu halten. Allerdings um den Preis, den Aktivisten beider Dekaden eine vollständige Verfehlung der Wirklichkeit vorzuwerfen, damit aber in toto alles für nichtig zu erklären, was sie unternahmen.

Natürlich ist es nachgerade ein Gemeinplatz, dass die radikale Linke dem „Wesen“ anhing, die „Erscheinungen“ aber gering achtete, dass sie Oberflächenphänomene mit historischen Tendenzen verwechselte, dass sie, wiewohl gänzlich voluntaristisch, gleichzeitig die vorgebliche objektive Entwicklung anbetete. Aber so abgekapselt von der Wirklichkeit, so eingesponnen in ihre Wunschträume war die radikale Linke nun wieder auch nicht. Man kann bei ihrer Analyse nicht gänzlich von dem absehen, was sie getan hat. Der KBW als größte der K-Gruppen hatte bedeutenden Anteil am Kampf zur Abschaffung des Paragraphen 218. Alle K-Gruppen unterstützten die Immigranten im Betrieb und in den Wohnvierteln. Kampagnen zur schlechten ärztlichen Versorgung, zur Wohnungsmisere, im schulischen und im Bildungsbereich mobilisierten oft Menschen weit über das maoistische Organisationsnetz hinaus. Auch die ersten Anti-Kriegsdemonstrationen sollte man trotz ihres bizarren ideologischen Begründungszusammenhangs nicht vergessen. Und nicht die praktische Hilfe, auch die humanitäre Hilfe, die allen nur denkbaren Befreiungsfronten in der Dritten Welt geleistet wurde.

Selbst die Parole „Für ein unabhängiges, vereintes, sozialistisches Deutschland“, die meine Gruppe teils zum Amüsement, teils zur Wut großer Teile der Linken in die Welt gesetzt hatte, enthielt ein Wirklichkeitsfragment. Wir glaubten nicht daran, dass die nationale Frage durch den Zeitlauf erledigt sei. Vielmehr sahen wir es als unsere Aufgabe an, uns auf die Perspektive der nationalen Einheit – natürlich unter sozialistischen Vorzeichen – vorzubereiten. Wir sagten: Nur die geeinte deutsche Arbeiterklasse kann die Revolution vollbringen. Dieser Blickwinkel unterschied uns von Nationalisten und Nationalbolschewisten, die in der Friedensbewegung der Achtziger zu Einfluss gelangten. Aber er deckte sich mit dem von Rudi Dutschke, von Biermann und vielleicht sogar mit dem von Herbert Wehner. Auch der extreme Antisowjetismus meiner Gruppe, die Auffassung, dass die Sowjetunion gerade wegen ihrer Schwäche zum Krieg trieb, war nicht völlig von jedem Realitätsbezug gereinigt. Cornelis Castoriades, gewiss kein Maoist, prophezeite: entweder der Krieg oder die Revolution in der Sowjetunion. Er sollte Recht behalten. Im Übrigen half uns unser Anti-Sowjetismus, uns mit der demokratischen Bewegung im sowjetischen Hegemonialbereich zu verbünden. Wir hatten geglaubt, unsere neuen osteuropäischen Freunde auf die Seite des revolutionären Sozialismus herüberziehen zu können. In Wirklichkeit geschah es umgekehrt. Der relative Erfolg der K-Gruppen verdankte sich also teils dem sicheren Hafen, den sie boten, ihrer Heilsgewissheit für die schwankenden Seelen, teils aber auch der gesellschaftlichen Wirkung, die sie trotz ihres Dogmatismus entfalteten.

Bei dem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete Fassung eines Vortrages, den der Autor auf einer Veranstaltung der „taz-nrw“ in Köln im April 2001 gehalten hat.

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