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Unendlich mehr Tote als Lebende

■ Adriana Hölszkys dritte Oper „Giuseppe e Sylvia“ am Oldenburgischen Staatstheater wirkt trotz vieler guter Einfälle seltsam schwach

Der 1901 gestorbene italienische Komponist Giuseppe Verdi hat privat sehr gelitten. Zwischen 1838 und 1840 starben seine Frau und zwei kleine Kinder. Er hat stets versucht, die private Befindlichkeit zu vertuschen, seine Rettung im Erfolg seiner Kunst zu suchen. Die 1932 geborene amerikanische Dichterin Sylvia Plath hat ihr privates Leben zur Literatur gemacht: Ehe sie 1963 Selbstmord beging, schrieb sie ausführliche Tagebücher.

Der Regisseur Hans Neuenfels schrieb anlässlich seiner Frankfurter „Aida“-Inszenierung eine Novelle mit dem Namen „Giuseppe e Sylvia“, die dann 1981 die Grundlage für ein gleichnamiges Opernlibretto wurde. Der Auftrag für die Musik ging an eine der eigenwilligsten Klangerfinderinnen unserer Zeit, an die rumänische Komponistin Adriana Hölszky. Im vergangenen November wurde das Stück am Staatstheater Stuttgart uraufgeführt.

Der Regisseur Stephan Mettin reduziert die etwas wirre, auch bewusst uneindeutige Handlung auf klare Linien: Zusammen mit dem von seinen Eltern aus rituellen Gründen ermordeten Roberto treffen sich Giuseppe und Sylvia auf der Insel Ischia im Totenreich. Ein (lebender) Regisseur will einen Film über das Treffen der Toten drehen („wir müssen die Toten retten“). Sein Projekt droht zwischenzeitlich zu scheitern, weil die Geldgeber nicht mehr an den Erfolg glauben. Der Regisseur gibt schließlich auf, denn seine toten Figuren haben sich verselbständigt. „Die Kantilene ist der Sinn der Utopie“, sagt er am Ende und zieht sich zurück. Die Toten dürfen sich ihr Unglück des Lebens nun gegenseitig nennen: Plath zerbrach an ihrem Überehrgeiz, Verdi an seinem privaten Unglück und Roberto wurde von seinem Vater einst ins Meer geschmissen. Sie können am Ende – ausgesöhnt mit ihrer Biographie – sagen: „Lassen wir die Lebenden ruhn.“ Nicht, ohne dass Sylvia Roberto für König Lears Sohn Edgar oder ihre Gedichtfigur Ariel oder sich selbst für Cordelia, die Lieblingstochter König Lears oder Verdi für ihren Vater gehalten hat.

Das surrealistische Psychogewirr in dreizehn Bildern wird in Oldenburg in einem wunderbaren Bühnenbild (Joachim Griep) präsentiert, das in einer hellblauen Kugel hunderte von kleinen Bildchen unserer großen Schöpfer enthält: von Shakespeare bis Thomas Mann, von Monteverdi bis Schönberg sind da alle die zu sehen, die unsere Menschheitsgeschichte auf Bühnen und in Bücher gebracht haben. Das reflektiert sinnfällig Neuenfels' im Operntext aufgestellte Behauptung, dass wir mit unendlich mehr Toten leben als mit Lebenden. Dazwischen fährt der Kahn mit den aufgeregten Toten – wie auf dem mythischen Fluss Lethe.

Eines zeichnet diese zweite Oldenburger Hölszky-Aufführung von vornherein aus: die unvergleichlich größere Präsenz der Musik. Man kennt die überbordende psychoanalytisch fundierte Bilderwelt des Hans Neuenfels, der als Regisseur in Stuttgart ja auch noch sein eigener Librettist war. Und so war in einer Uraufführungskritik zu lesen, dass in Stuttgart die Musik verschwand „wie das Würschtl im Kraut“ (Frankfurter Rundschau). Nach der genialen „Bremer Freiheit“ (1988) und den geheimnisvollen „Wänden“ (1995 von Hans Neuenfels in Wien uraufgeführt und 1996 in Oldenburg) wirkt Hölszkys Musik für ihre dritte Oper hier wider Erwarten seltsam schwach, trotz vieler guter Ideen zieht sie nicht so richig.

Viele Stillstände wirken nicht als dramaturgisch sinnvolle Generalpausen, sondern wirklich so, als wüsste jetzt keiner, wie's eigentlich weitergeht. Die Vielfältigkeiten des Klangapparats, der von Glockenschlägen bis zu schnalzendem Zungengewirr, von Originalmusik bis Zuspielbändern zwar vieles präsentiert, wirken aber eher als illustrierende Additionen denn als „Schichten einer Zwiebel“, wie von der Komponistin selbst behauptet. Und es wird neben allen verfremdeten Vokalexperimenten, für die Hölszky so bekannt ist, geradezu traditionell „groß“ gesungen: expressiver Bel Canto lässt grüßen. Fabelhaft machen das Susanne Schubert als Sylvia, Bernard Lyon als Giuseppe und Jörn Lindemann als Roberto. Der neue Generalmusikdirektor Raoul Grüneis hat das alles hochambitioniert und mit überzeugender Disposition in der Hand, ein besonderes Lob sollte der großen Rolle des Chores gelten.

Ute Schalz-Laurenze

Die nächsten Aufführungen: 8., 13., 19., 21., 23., 26. und zum letzten Mal am 29. Juni.

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