: „Wir sind keine Separatisten“
Anders als Korsen oder Basken schwenken kabylische Jugendliche keine eigene Standarte auf ihren Demonstrationen. „Wir sind in erster Linie Algerier“
aus Tizi Ouzou REINER WANDLER
„Wir geben niemals auf.“ Mit starrem Blick verfolgt der junge Mann, wie die algerische Fahne vom Leichnam genommen wird. Der Körper, der in ein weißes Tuch gehüllt ist, gleitet langsam in die Graböffnung. Bedächtig wird er zurechtgelegt. Am Hinterkopf hat sich im Leichentuch ein dunkelroter Fleck gebildet. Die Bahre, auf der der Leichnam transportiert wurde, ist in Kopfhöhe ebenfalls blutverschmiert. „Die Hunde haben Mohammed von hinten niedergeschossen, als er wegrannte“, erklärt ein anderer Trauergast. Wie die meisten der mehreren tausend Jugendlichen, die den Leichnam von der Stadt zum Friedhof begleitet haben, trägt auch er ein Stirnband mit dem „Z“-Zeichen aus dem Berber-Alphabet. Es unterstreicht die Forderung nach der eigenen, nicht arabischen Identität der Berber in Algerien. Immer wieder überfliegt ein Hubschrauber den Friedhof von Tadmait.
Die Gendarmen des 70.000-Einwohner-Ortes 20 Kilometer westlich von Tizi Ouzou hatten zwei Tage zuvor das Feuer auf Jugendliche eröffnet, die Steine und Molotowcocktails gegen die Kaserne am oberen Ortsende warfen. Der 24-jährige Aziz Akkouch starb sofort. Der 29-jährige Mohammed Hamidchi erlag 24 Stunden später seiner Schussverletzung. Über 40 Demonstranten wurden zum Teil schwer verletzt: die blutige Bilanz einer von zahlreichen Protestaktionen, wie sie in der Berberregion Kabylei täglich stattfinden, seit die Polizei am 18. April einen Gymnasiasten auf der Wache im Gebirgsort Beni Douala erschossen hat.
Widerstand gegen die Verachtung
„Pouvoir assassin!“ („Mörderregime“) und „Ulach smah Ulach“ („Kein Vergeben)“ lauten die Parolen, mit denen die Jugendlichen Polizeikasernen und öffentliche Einrichtungen angreifen. Auf der Zufahrtstraße ins Ortszentrum von Tadmait liegen überall abgeknickte Straßenlaternen quer. Große Haufen aus schwarzem Ruß und Drahtspiralen zeugen von den Barrikaden aus brennenden Autoreifen in der Nacht zuvor. Die wenigen Pkws weichen im Zickzack riesigen Steinbrocken aus. Kinder sammeln die leeren Kartuschen der von den Ordnungskräften verschossenen Tränengasgranaten auf. Sie sind aus Aluminium. Dafür gibt es beim Schrotthändler gutes Geld. Am Ortseingang an der Autobahn, die die Provinzhauptstadt Tizi Ouzou mit der 110 Kilometer westlich liegenden Hauptstadt Algier verbindet, wurden hohe Wälle aus Kies aufgeschüttet. Für Fahrzeuge gibt es kein Durchkommen.
„Wir wehren uns gegen die Hogra“, erzählt ein Freund des Toten. „Hogra“ bedeutet in algerischem Arabisch „Verachtung“ oder „Missachtung“. „Hogra“ steht für die alltägliche Unterdrückung, die fehlenden demokratischen Freiheiten, die blutige Repression, aber auch für die Zwangsarabisierung an den Schulen und vor allem für soziale Ungerechtigkeit und Arbeitslosigkeit. Kurz: für das Fehlen jeglicher Perspektive. „Wir geben nicht nach, bis die Gendarmerie aus der Kabylei abzieht. Heute Abend nach der Beerdigung gibt es Krieg“, sagt der 30-Jährige, der seinen Namen nicht nennen möchte.
Mit rotem Halbmond und Stern
Die Ereignisse im benachbarten Draa Ben Khedda zeigen, was er damit meint. Dort hat „der Krieg“ bereits am Vortag stattgefunden, ebenfalls nach der Beerdigung eines Opfers der Gendarmen. Die Jugendlichen rissen die Mauern der Kaserne nieder. Das Gebäude wurde mit Molotowcocktails und Butangasflaschen beworfen. Ein Toter Gendarm und fünf schwer Verletzte waren die Folge.
„Wir sind keine Separatisten, wie sie in Algier den Leuten weismachen wollen“, sagt ein weißhaariger Mann, der sich als „Bousaad, 46, Ingenieur“ vorstellt. Anders als die Korsen in Frankreich oder die Basken in Spanien schwenken die Kabylen keine eigene Standarte. Die Jugendlichen führen auf allen Demonstrationen die mit rotem Halbmond und Stern geschmückte grünweiße Fahne der algerischen Republik mit sich. „Wir sind in erster Linie Algerier“, erklärt Bousaad. Ob Jung, ob Alt, die umstehenden Trauergäste auf dem Friedhof von Tadmait stimmen ihm zu. „800.000 Kabylen fielen im algerischen Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich. Mohammed Hamidchis Großvater ist einer von ihnen.“ Auch Mohammeds Cousin Hamid gilt hier als Märtyrer, der fürs Vaterland starb. 1994, während des Militärdienstes, geriet er in einen Hinterhalt bewaffneter Islamisten. Neben ihm findet Mohammed jetzt die ewige Ruhe.
„15 starben allein im Krankenhaus von Tizi Ouzou“, erklärt Samir. Der Arzt ist einer der Organisatoren des Trauermarsches der Krankenhausbelegschaft quer durch Tizi Ouzou. Auch sie, ausnahmslos Staatsbedienstete, schreien ihre Wut über das „Mörderregime“ heraus. „Freiheit! Nieder mit der Diktatur!“ lautet ihre Hauptparole. „Wir haben einen Krisenstab gebildet, um rund um die Uhr die Verletzten zu behandeln“, berichtet Samir. Der Mittdreißiger hat längst aufgehört, die Opfer zu zählen. Hunderte seien es allein in Tizi Ouzou, darunter viele schwer Verletzte. 52 Tote gesteht die Regierung für die gesamte Kabylei ein. Über 90 zählt die unabhängige Presse. Die Zahl der Verletzten liegt bei über 1.500.
„Das ist eine Katastrophe. Die meisten Opfer sind zwischen 15 bis 18 Jahre alt.“ Samir berichtet von Kindern, die das Augenlicht verloren haben, und von Jugendlichen, denen Gliedmaßen amputiert werden mussten. „Kleines Einschussloch, riesige Austrittswunde – das weist auf Explosivmunition hin“, begründet ein Kollege, warum oft Arme oder Beine nicht mehr zu retten sind.
„Die Polizei schießt immer wieder Tränengas in die Wohnungen“, berichtet Samir, der selbst Babys vor dem Ersticken retten musste. In der zweitgrößten Stadt der Kabylei, Béjaïa, starb ein Rentnerpaar im Gas. Und das, obwohl der Aufdruck auf den US-amerikanischen CS-Gas-Patronen den Gebrauch in geschlossenen Räumen ausdrücklich verbietet. Nach dem Trauermarsch sollte selbst das Krankenhaus beschossen werden. Später dann entschuldigte sich die Polizeiführung bei den Kranken für „das Versehen“. Die Ärzte glauben nicht an einen Irrtum. „Auch unsere Notarztwagen werden ständig beim Einsatz behindert“, beschweren sie sich.
Marsch des Krankenhauspersonals
Das Krankenhaus liegt genau zwischen der Neustadt rund um die Universität und dem Zentrum von Tizi Ouzou. Wer den aufgewirbelten Straßenstaub einatmet, weiß, dass es hier immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Polizei und Jugendlichen kommt. Die Augen beginnen zu jucken, die gesamte Straße ist tränengasgetränkt. Die Polizei kontrolliert nur noch das Stadtzentrum. Doch auch das gelingt mehr schlecht als recht. Öffentliche Gebäude, Banken, die Niederlassung der staatlichen Fluggesellschaft, Parteibüros – alle fielen sie den Brandsätzen wütender Jugendlicher zum Opfer.
Auch nach dem Marsch des Krankenhauspersonals kommt es wieder zu Zusammenstößen, wie zuvor bei den Demonstrationen der Frauen oder der Anwälte. Polizisten mit Schienbeinschützern, kugelsicheren Westen, Helmen und Schilden rücken vor. Sie haben ihre langen Holzknüppel zur Hand. Unter den Jugendlichen am Ende des Marsches bricht Panik aus. Sie rennen in die Seitenstraßen, reißen Gehwegplatten heraus und zerdeppern sie. Die Brocken verwandeln sich in Wurfgeschosse gegen die Sondereinsatzkommandos.
Die blaue Phalanx verschießt Tränengas. Zwei „Hammam“ (türkisches Bad), wie die Kids die Wasserwerfer getauft haben, fahren den Hauptboulevard auf und ab. Aus den Seitenstraßen geht ein Steinhagel auf sie nieder. Die Besatzungen richten den Strahl gegen die Demonstranten. „Moustache“ („Schnurrbart“) genannte Räumfahrzeuge schieben Baumaterial zur Seite, das auf die Straße geworfen wurde. Auch sie werden zum Ziel der Steinewerfer.
„Aus Respekt vor den Toten“
„Das geht hier jeden Tag so“, sagt ein Jugendlicher im Shirt des örtlichen Erstligisten. Seine Freunde grinsen. Seit dem Beginn der Unruhen machen die Geschäfte in Tizi Ouzou jeden Morgen um zehn Uhr zu. „Aus Respekt vor den Toten“, sagt ein Geschäftsmann, der die Schlacht mit der Polizei beobachtet. Kaum sind die Läden unten, beginnen die Auseinandersetzungen, die bis lange nach Mitternacht anhalten.
„Die oben werden immer reicher, während wir Jahr für Jahr schlechter leben“, begründet einer der Jugendlichen, warum er mitmacht. Er hat wie die meisten hier in Tizi Ouzou Daten parat, um dies zu belegen: „Allein im letzten Jahr beliefen sich die Erdöleinnahmen Algeriens auf 20 Milliarden US-Dollar. Der Staat hat 14 Milliarden an Devisenreserven. Damit könnten sie einen Haufen Sachen für uns machen.“ Die Arbeitslosigkeit ist dennoch auf über 30 Prozent gestiegen. Unter den Jugendlichen dürfte sie doppelt so hoch sein. Wer einen Job hat, verdient meist nur um die 300 Mark monatlich – bei einem Preisniveau, das sich auf das in Westeuropa zu entwickelt. Korruption, Vetternwirtschaft – mit all dem wollen die Jugendlichen aufräumen. „Unser Kampf ist deshalb der Kampf der gesamten algerischen Jugend“, wirft ein anderer ein. Die Nachrichten von den Studentendemonstrationen in der Hauptstadt Algier unter dem Motto „Wir sind alle Kabylen“ werden hier freudig aufgenommen.
Da ist er wieder, der Schlachtruf: „Wir geben niemals auf!“ Und wenn die Mächtigen nicht einlenken? Der junge Mann hört die Frage nicht mehr. Er ist schon wieder losgerannt. Erneut geht ein Steinhagel auf den vorbeifahrenden Wasserwerfer nieder. „Wir haben die Schnauze voll. Visa für Kanada“, steht in roten Lettern an eine Mauer gesprüht.
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