: Not- und Hilfsgemeinschaft
Friedrich Schiller und die Geschichte lehren uns, wie wichtig gute Nachbarschaft ist. Nur: Das Leben spricht dagegen
„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben / wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Mit diesem Anfang dürfte mir beim diesjährigen Wettbewerb um die volkstümlichste Kolumne eine Spitzenposition sicher sein. Im Original stammt das Zitat allerdings gar nicht von Franz Josef Wagner, sondern von Friedrich Schiller, geschrieben 1804. Mit dem „bösen Nachbarn“ war kein Kollege aus der Weimarer Klassiker-Kolonie gemeint, der während der Mittagsruhe Nägel in die Wand schlug. Nein, Wilhelm Tell galt’s und der kleinen, friedlichen Schweiz, die schon damals von der raublüsternen Welt zur Wehrhaftigkeit geradezu gezwungen wurde. Der „böse Nachbar“ war damals also nicht der Krakeeler von nebenan, sondern die benachbarte Großgruppe die dem eigenen Haufen nach Land und Leben trachtete. Und vice versa. Wer jetzt glaubt, das sei ein ganz schön irres Konzept, an den Balkan denkt und sich schüttelt, der fahre einfach am nächsten Wochenende nach Krakau oder Tschenstochau und erkundige sich dort, wie man russische und deutsche Nachbarn sieht.
Mit der Globalisierung hat sich der Zoff mit dem benachbarten Großkollektiv tendenziell erledigt, auch der Krieg wird in die persönlichen Beziehungen verschoben: Schillers Zitat illustriert heute die Webseiten von Anwälten für Mietrecht und Eigentumsfragen.
Dabei war einmal – lang ist es her – die Beschäftigung mit dem unmittelbaren Lebensumfeld durchaus lustvoll. Auch hierfür finden sich (leicht verwehte) Spuren im kollektiven Gedächtnis. Einer meiner Informanten, der die 70er bewusst erlebt hat, schwört glaubhaft, damals habe es einen Roland-Kaiser-Schlager gegeben mit dem Refrain: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben / wenn ihm die schöne Nachbarin gefällt.“ (Wohl ein Ausdruck des breiten geistigen Aufbruchs dieser Tage, den wir Kinder der Spaßgesellschaft gar nicht mehr nachvollziehen können.) Nichtsdestotrotz ein Beleg, dass es eine Zeit gab, in der Menschen Kommunen gründeten, Straßenfeste organisierten und zumindest dem wohlgeformteren Teil ihrer Nachbarschaft ein gewisses Interesse entgegen brachten.
Wie sieht es heute aus in Sachen Nachbarn? Meyers großes Taschenlexikon definiert:
„Nachbarschaft, räuml. Wohn- und Siedlungsnähe, in der die sozialen Beziehungen der dort lebenden Menschen durch bes. ausgeprägte persönliche und dauerhafte Beziehungen bestimmt sind. N. ist als ... Gefüge sozialer Kontrolle ... zugleich auch existenzsichernde Not- und Hilfsgemeinschaft von Bed.“
„Von Bed.“ meint „von Bedeutung“. Haben Ihnen Ihre Eltern nicht beigebracht, es sei wichtig, im Hausflur freundlich zu grüßen? Und Sie wussten schon als Kind instinktiv, das ist Quatsch. Sie hatten natürlich Recht. Von wegen „von Bed.“! Lassen wir also Klassiker, Historie und Lexika und wenden wir uns dem richtigen Leben zu. Ihrem Leben: Nehmen Sie Zettel und Stift hervor, notieren Sie a) die Vornamen der Bewohner der Wohnungen neben, über und unter Ihrer Wohnung. b) das letzte Anliegen (Kinder betreuen, Tasse Mehl leihen, Blumen gießen), das ihre Nachbarn an Sie richteten. c) Zeichnen Sie das Gesicht ihrer Lieblingsnachbarin, wie Sie es im Traum sehen.
O. k. Ganz schön magere Ausbeute: ein Vorname, kein Anliegen und Träume von irgendwelchen Lieblingsnachbarinnen schon gar nicht. Das bedauern Sie kein Stück? Die sollen ihnen am besten komplett vom Leib bleiben, erst mal Ihre Krachkinder dressieren und sonntags ihre blöde Formel-1-Übertragung nicht so dröhnend laut konsumieren? Richtig so. Anonymität ist in dieser Gesellschaft ein erstrebenswerter Zustand. In-Ruhe-gelassen-Werden ist sowieso ein Wert an sich, und Liebe hängt heute an „gemeinsamen Interessen“, nicht an irgendwelchen Zufälligkeiten, wie etwa Nachbarschaft. Nichts ist mit „ausgeprägte pers. und dauerhafte Bindung“, von wegen „Not- und Hilfsgemeinschaft“. Heutzutage kommt sogar der Postbote eher zweimal, bevor nur ein kleines Päckchen beim Nachbarn abgestellt wird. Das Schicksal des modernen Großstadtmenschen wird unwesentlich bis gar nicht von seiner Nachbarschaft bestimmt. Alles klar. Thema durch. Kolumne zu Ende. Danke. Ciao.
Langsam! Wann haben Sie das letzte Mal Wohnungsanzeigen unter der Rubrik „Suche“ studiert? Achten Sie auf Aushänge in Szenekneipen? Es scheint völlig normal zu sein, vierstellige Beträge als Belohnung zu versprechen, um zur Wuchermiete eine Wohnung im Münchener Glockenbachviertel beziehen zu dürfen. Wer Wohnraum im „authentischen“ Prenzlauer Berg in Berlin zu vergeben hat, muss sich auf falsche Freunde und unsittliche Angebote gefasst machen. Die Leute scheinen wild entschlossen, alles zu tun, um am richtigen Ort an ihren Nachbarn vorbeileben zu dürfen.
Wenn Sie mögen, erzähle ich Ihnen beim nächsten Mal von „meinem“ Neukölln.
Fragen zu Schicksalen?kolumne@taz.de
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