Formel Pershing

Berge explodieren, Schuld hat der Präsident: Wie in den Achtzigern die Angst vor einem Atomkrieg durch Popsongs von den Puhdys bis Ultravox geschürt wurde und warum Sex gut für den Frieden war

von JOCHEN SCHMIDT

In den 80ern lebte man in der ständigen Angst, ein nervöser Amerikaner oder ein betrunkener Russe könnte den Knopf drücken, den man sich rot vorstellte, und der atomare Regen würde über uns niedergehen. Wenn nachts die Sirenen dröhnten, dachte ich jedes Mal, es ginge los. Eine Käseglocke für Europa, an der die Raketen abgeprallt wären, hätte mich sehr beruhigt. Die Popmusik schürte meine Ängste zusätzlich: „Und die schlanken Pershings fliegen/ und die SS 20 im Nu/ auf Paris, Köln und Moskau und auf New York City zu“, sang Udo Lindenberg 1984 in „Der große Frieden“. Heavy-Metal-Apokalyptiker wie Carnivore brachten es finster auf den Punkt: „Pray for your death, if you survive, you’ll die in pain, in world war five“. Und selbst anscheinend harmlose Sommerhits handelten in Wirklichkeit vom Atomkrieg: „Vamos a la playa la bomba estalló/ Las radiaciones tostan y matizan de azul“.

In der Schule wurde uns erklärt, auf welche Weise wir durch Radioaktivität, Hitze, Magnetfeld, Druckwelle, Sonnenfinsternis, B- und C-Waffen tausend Tode sterben würden und wie wichtig es deshalb sei, für den Frieden zu sein und drei Jahre zur Armee zu gehen, denn „Der Friede muss bewaffnet sein“ hatte ja schon Wilhelm Busch den Igel sagen lassen.

Im westlichen Kinderprogramm überlebten die letzten Kinder von Schewenborn den Atomkrieg in einer verbrannten Nebellandschaft, bei Robert Merles „Malevil“ eine Gruppe Menschen in einem Weinkeller, um sich dann mit anderen verwilderten Überlebenden zu bekriegen. Da klang der Tag danach bei Nena noch ganz harmlos: „Heute dreh ich meine Runden, seh die Welt in Trümmern liegen, hab’n Luftballon gefunden, heb ihn auf und lass ihn fliegen“.

Zu manchen dieser Lieder konnte man sogar langsam tanzen: „And the world remembers his name, remembers the flame was Hiroshima“. Obwohl wir Mühe mit den englischen Texten hatten, war in diesem Fall klar, worum es ging, und man hatte ein schlechtes Gewissen, wenn man den Refrain in den Armen einer Angebeteten mitsummte.

Die Puhdys hatten kein schlechtes Gewissen, von diesem Lied eine deutsche Version zu singen: „Denn die Welt erinnert sich gut, sonst holt sie die Glut, wie Hiroshima“. In „Das Buch“ ließen die Puhdys von der Erde nach dem „Feuer, das so groß war, dass keine Tränen es mehr löschen konnten“, gar nichts mehr übrig: „die Kontinente geschmolzen, die Meere verbrannt – ein schwarzer Stein“. Wer hätte darauf leben wollen? Bei Ultravox’ „Dancing with tears in my eyes“ bekam man dagegen erst mit, worum es ging, nachdem das Video bei Formel 1 gelaufen war, in dem ein Mann in der Massenpanik vor dem Einschlag der Bomben nach seiner Frau sucht. Bis dahin hatten wir noch gedacht, es handele sich um ein Liebeslied, manche waren sogar der Meinung, es heiße „Tanzen mit dir auf dem Eis“. Tatsächlich ging es um sehr guten Sex in der Nacht vor dem Weltuntergang: „It’s late and I’m with my love alone/ We drink to forget the coming storm/ We love to the sound of our favourite song/ Over and over“.

So gut wie immer kam die Gefahr aus Amerika. Und dort war natürlich der Präsident der größte Schurke: „Herr Präsident, ich bin jetzt 10 Jahre alt, und ich fürchte mich in diesem Atomraketenwald“. Die Fehlfarben brachten es auf den Punkt: „Berge explodieren, Schuld hat der Präsident, es geht voran“. Und mit dem schlimmsten aller Präsidenten ließ sich das Wortspiel der Stunde machen: „Wir wollen Sonne statt Reagan, ohne Rüstung leben“, sang Joseph Beuys.

Jemandem, der in Hollywood Cowboys gespielt hatte, war einfach alles zuzutrauen: „Er will die Säcke im Osten reizen/ die auch nicht mit Atomen geizen“. 1984 fieberte man mit, dass er vielleicht abgewählt würde, aber er gewann haushoch und auch alle Attentate misslangen. Gott meinte es nicht gut mit uns.

Im Geist formulierte ich vor dem Einschlafen einen Brief, in dem ich diesen Reagan, ohne ihn meinerseits zu reizen, davon zu überzeugen suchte, dass die Russen keine Bombe werfen würden. Ob er ihn überzeugt hätte?

Unser Physiklehrer bewies uns, dass die amerikanischen SDI-Pläne gar nicht zu realisieren seien, und wenn doch, dann gab es noch Manfred von Ardenne, der lächelnd anmerkte, dass ja schon „ein Sack Sand“ reiche, um so eine Laserwaffe im Orbit außer Gefecht zu setzen. Aber uns allen war klar, dass die wirkliche Gefahr von der Abenteuerlust und Selbstüberschätzung der Amerikaner ausging. Europa musste zusammenhalten, wenn es kein Euroshima werden wollte. Im Osten sangen Berluc: „No bombs, no radioactivity/ no bombs, never Euroshima“, im Westen Geier Sturzflug: „Vor dem alten Kölner Dom steigt ein Atompilz in die Luft/ und der Himmel ist erfüllt von Neutronenwaffelduft/ Besuchen sie Europa, solange es noch steht“.

Das Wort SDI wurde so oft und mit solchem Abscheu wiederholt, dass es bald so verboten klang wie SS und SA. Genau so einen unanständigen Klang hatte die Bezeichnung „SS 20“, die bei uns nie benutzt wurde. Mit „’ne SS 20 zu ’nem Traktor und ’ne Pershing zu ’ner Lok“ fielen BAP deshalb aus dem Rahmen und mussten drüben bleiben.

Heute gehen die Gefahren, von der die Popmusik spricht, wieder von der konventionellen „Sexbomb“ aus. Damals war sogar Sex politisch: „Petting statt Pershing“ stand auf einem Aufkleber, den ich auf dem Gitarrenkoffer einer Langhaarigen sah. „Pattex“ und „Pritt“ kannte ich, aber „Petting“? Ich fragte meine Mutter, ob „Petting“ auch was zum Kleben sei. Sie lachte und drückte sich um eine Antwort. Dass Sex gut für den Frieden war, bekam ich so erst mit, als es schon gar nicht mehr stimmte.