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Der Störer aus Überzeugung

taz-Serie „Die Aktivisten“ (Teil 3): Er liest jedes Flugblatt, beehrt fast jede politische Veranstaltung. Und redet viel darüber. Die linke Szene nennt ihn „Info-Stefan“. Er nennt sie „spießige Ersatzfamilie“

von DIRK HEMPEL

Er kennt fast alle, die in der linken Szene aktiv sind – und fast alle kennen ihn. Und er weiß sowieso fast alles: alles, was sich tut. Alles, was auf irgendwelchen Flugblättern steht. Alles, was auf linken Veranstaltungen gesagt wird. Alles, was in den nächsten Tagen und Wochen ansteht.

Der Mann ist ein wandelndes Nachschlagewerk. Deswegen heißt er auch so. „Info-Stefan“ wird er genannt – oder abgekürzt auch nur „Info-S“. Gerne hört er das nicht: „Ich will einfach Stefan genannt werden“, sagt der fast 40-Jährige, „zumindest im persönlichen Gespräch.“ Was die Leute hinter seinem Rücken sagen, sei ihm egal. Seinen Nachnamen und das genaue Alter will der ansonsten sehr Gesprächige nicht verraten. Auch fotografieren lassen will er sich nicht.

Er gibt vor, was passiert. Zuhören ist nicht sein Stärke. Sein angesammeltes Wissen muss raus: An alle, die es interessiert – oder auch nicht. Und deswegen meldet er sich überall zu Wort. Auf der New-Economy-Messe Internet World sieht man den Mann mit den langen ergrauten Haaren genauso wie bei einer Vollversammlung der Autonomen, auf Parteitagen, dem taz-Kongress, Esoterik-Meetings oder einer Veranstaltung mit Prominenten an der Uni. Überall ist er ein Störenfried – aus Überzeugung: „Ob es gewünscht ist oder nicht, ich ergreife einfach das Wort – auch wenn mich alle böse angucken. Ich will diese Strukturen und Normen durchbrechen.“

Allein der Gedanke daran bereitet ihm bereits Freude: Hinter der Brille blitzen seine Augen freudig auf – für einen Moment ist sogar Schluss mit Redefluss. Um die Mundwinkel zu einem leichten Lächeln nach oben zu ziehen, muss er kurz innehalten. Kurz nur, denn schon geht es weiter: Aufs Provozieren komme es ihm an, Leute verunsichern – „ob Linke oder ganz Normale in der U-Bahn“ – und sie damit zum Denken anregen. Manchmal provoziert er auch Prominente. 1998 warf er bei einer Wahlkampfveranstaltung Eier auf Joschka Fischer. Schließlich „wusste“ Stefan schon damals, dass Fischer bald Minister wird.

„Im Alltag politisch sein“, klagt Stefan, „so was machen die wenigsten, die sich politisch aktiv nennen.“ Überhaupt ist er mit der linken Szene gar nicht zufrieden. Sie sei „inzestuös“ – viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Außerdem kümmere sich jeder nur um seinen Bereich: Hier die Antifa, da die Antirassisten, Internationalisten, Frauen-Inis, Kneipenkollektive und so weiter. Sein Ziel: eine geeinte Linke. Doch die Realität sieht anders aus, weiß Stefan: „Jede Gruppe hat ihre eigene Corporate Identity und interessiert sich gar nicht für den ganzen anderen Kram.“

Stefan ist das personalisierte Gegenteil davon. Er sammelt die Infos von allen, liest jedes Flugblatt und jede Zeitung, die er entdeckt. Es ist paradox: Nichts ärgert ihn mehr, als wenn Plakate und Flugblätter in Szenetreffpunkten lose umherfliegen. Stefan ordnet sie. Und zugleich fasziniert ihn das Durcheinander. Ob aus dem Papierkorb oder völlig versifft vom Kneipenboden – er sammelt jedes Papier.

In seiner kleinen Wohnung hortet Stefan diese Schnipsel, geklaute Zeitungen und einige tausend Zettel mit handgeschriebenen Notizen. Einen Teil seines Reichtums hat er ausgelagert – in Kellern von Freunden und Bekannten. Manchmal muss er sich von diesen Schätzen trennen. Wenn er einen dieser Keller räumen soll – und keine Ahnung hat, wohin damit.

Immer ist er auf der Suche nach etwas Neuem – oder nach etwas, was ihm nicht gefällt. Dann zensiert er: Plakate werden heruntergerissen, Flyer wandern in den Müll. „Wenn darauf nicht gerade Hitler verherrlicht wird“, sagt Stefan, „kann ich in Szene-Räumen doch alles aufhängen, und keiner stört sich dran.“ Stefan schon.

Der aus der Reihe tanzt – so stellt er sich selbst gern dar. Linke Rituale sind ihm genauso verhasst wie Markenklamotten. Die Szene beschreibt er als „spießige Ersatzfamilie“, in der Revolutionsgläubigkeit die Religion ersetzt: „Alle sind fixiert auf den ErstenMai und wenn zwei, drei Jahre nichts Spannendes passiert, fangen sie eine Bankerkarriere an.“

Für den Sozialhilfeempfänger, der sich gelegentlich mit dem Sammeln von Pfandflaschen oder Blutspenden ein paar Mark hinzuverdient, ist das keine Perspektive. Seine Laufbahn ist eine andere – die eines Aktivisten, eines Einzelaktivisten.

Nach Westberlin kommt er erstmals zu einer Silvesterparty 1984/85. Die Inselstadt gefällt ihm. Vor allem, weil es hier keine Bundeswehr gibt und mehr los ist als in dem „westdeutschen Kleinkaff“, in dem er aufgewachsen ist. Er zieht um, will Künstler werden („Das ist cool, da kann dir kein Chef reinreden“), zum Beispiel Fotograf. Letztlich reicht es nur zum Plakatkleber – dem „schnellsten Berlins“.

Dann seine erste Polit-Aktion: Anti-AKW-Demo 1986 in Brokdorf. Das Reaktorunglück in Tschernobyl hat Stefan zum Kernkraftgegner gemacht. Im Folgejahr wird er zum Vollzeitaktivisten. Die Krawalle am Ersten Mai haben ihre Faszination, dann kommen auch noch US-Präsident Ronald Reagan und die Mun-Sekte nach Westberlin. Die linke Szene mobilisiert: Eine Vollversammlung jagt die nächste, Flugblätter gibt es in Massen. Stefans Sammelleidenschaft wird entfacht. „Kommunikationsbegeisterung“ nennt er selbst seine Info-Macke: „Ich will die gesamte Komplexität erfassen, dazu muss man alles mitkriegen – alles lesen, alles angucken.“ Und offenbar auch weiterersagen. Stefan weiß genug: Aus dem Stegreif erzählt er, wo Innenminister Otto Schily und der frühere Regierende Bürgermeister Walter Momper zu Abend essen, wie der heutige PDS-Abgeordnete Freke Over 1990 eine Kneipe aufgesucht habe, in der sich der extrem rechte CDU-Mann Heinrich Lummer nach einer von Autonomen gesprengten Wahlveranstaltung seiner Partei ein Bierchen gönnte oder dass in einer Biografie über Helmut Kohl beschrieben sei, wie der kleine Helmut als HJ-Bub Naziakten in Berchtesgaden beiseite schaffte. Die Aufforderung von Freunden, ein Buch über sein Wissen zu schreiben, hat er dankend abgelehnt: „Da müsste ich gleich hundert Bücher schreiben, anders kriege ich den ganzen Input nicht sortiert und aufgearbeitet.“ Und schon trübt sich sein Blick. Denn Stefan kennt seine Fehler: „Meinen Assoziationsketten kann doch kaum jemand folgen.“

Deswegen ist das Internet für ihn das Medium der Zukunft – zumal er von der „Technikfeindlichkeit“ der Linken nichts hält und für neue Ansätze immer zu haben ist. Wo ließen sich Querverlinkungen besser und übersichtlicher darstellen? Alle könnten dann nachlesen, was sie interessiert. „So langsam, wie sie wollen, nicht mehr so schnell, wie ich normalerweise spreche.“ Einen Nachteil allerdings scheint der Info-Mann dabei zu vergessen: Bei Websites reicht ein Knopfdruck – und der Informationsschwall findet ein jähes Ende.

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