: Ein Barometer für Zufriedenheit
Die Größe der Menschen äußert sich im Laufe der Zeit als Wellenbewegung: Schon in der Jungsteinzeit waren Erwachsene genauso groß wie die alten Preußen. Mit der Länge veränderten sich auch die Kopfform und das Volumen des Gehirns
von ANDREA SCHNEIDER
„Muss ich erzählen, wie einem zumute ist, wenn man durch eine Puppenstube geht?“, lässt Jonathan Swift seinen Gulliver im Lande Liliput spekulieren. Muss er nicht. Denn unser Liliput ist die Vergangenheit. Wer ist nicht schon einmal staunend durch eine alte Burg geschlendert und hat sich gefragt, wie ein Erwachsener in diese Ritterrüstungen hineingepasst haben mag? Oder wie jemand in den Bettchen schlafen konnte, ohne sich den Kopf zu stoßen? Dennoch ist die Annahme, die Menschheit wachse immer weiter in den Himmel, ein Irrglaube, sagt Uwe Jaeger vom Institut für Humangenetik und Anthropologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Die Größe des Menschen versteht der Wissenschaftler als Barometer für soziale und gesundheitliche Zufriedenheit. Geht es uns gut, werden wir größer. Geht es uns schlecht, dann vollzieht sich ein Schrumpfungsprozess. Gerade das Mittelalter sei mit seinen Kriegen und Seuchen nicht dazu angetan gewesen, jemanden wachsen zu lassen. Als Wellenbewegung durch die Zeit lässt sich die Länge der Menschen beschreiben. Denn schon vor 7.000 Jahren, in der Jungsteinzeit, oder wissenschaftlich: im Neolithikum, waren Erwachsene bereits durchschnittlich 1,66 Meter hoch. Genauso lang wie im Jahre 1894 in Preußen.
Jaeger und sein Institut beschäftigen sich mit der Größe der Menschen. Den morphologischen Veränderungen bei Kindern und Erwachsenen spürt der Wissenschaftler nach – vom Neolithikum bis heute. Detektivische Puzzlearbeit. Denn erst seit dem 19. Jahrhundert liegen zeitgenössische Zahlen und Daten vor. Und die umfassen auch nur ganz bestimmte Personengruppen. Seit 1880 beispielsweise wurden in Jena die Schulkinder vermessen und diese Ergebnisse dokumentiert.
Preußische Genauigkeit verschafft den Wissenschaftlern eine zweite Quelle: Denn mit Einführung der Wehrpflicht in Preußen im Jahr 1814 wurden die Musterungsuntersuchungen angehender Rekruten schriftlich festgehalten. In Bayern war man übrigens noch schneller: Hier liegen erste Daten bereits seit dem Jahr 1804 vor.
Reibungsverluste gibt es bei der Auswertung dieser Daten dennoch. Denn die Messtechnik entsprach im Hinblick auf die Exaktheit der Messung, Präzision und Eichung der Messinstrumente und die Sorgfalt im Umgang mit den Daten nicht den Anforderungen einer naturwissenschaftlich fundierten Anthropometrie, der Lehre von der Messung der Körpermaße. Doch weil in allen Musterungs-Büros mit den gleichen Handicaps gearbeitet wurde, lassen sich die Werte dennoch zu Vergleichen heranziehen. Sehr sparsam sind allerdings die Aussagen über das Körpergewicht. Die Ursache: Im 19. Jahrhundert wurde mit Dezimalwaagen gewogen, bei denen die Schwere eines Menschen nur durch das Auflegen des genauen Gegengewichts ermittelt werden konnte. Zu viel Aufwand für das Musterungskommando. Eine Waage mit dem aufgelegten Gewicht von 65 Kilogramm musste reichen: Wer leichter war, durfte zur Reiterei, wer schwerer war, musste laufen.
Wahre Knochenarbeit leisten die Wissenschaftler vom Institut für Humangenetik und Anthropologie bei ihren Recherchen in tieferer Vergangenheit. Sie untersuchen und vermessen Skelettfunde aus der Mittelelbe-Saale-Region, die schon seit Jahrtausenden als relativ geschlossener Siedlungsraum gilt. Ihre Ergebnisse: Vom Neolithikum bis zur Zeitenwende nahm die Größe der Menschen kontinuierlich zu. „In der Jungsteinzeit wurden die Menschen sesshaft“, erzählt Jaeger. „Sie zogen nicht mehr als Jäger und Sammler herum. Sie mussten sich nicht mehr die Bäuche vollschlagen, wenn ein Tier erlegt worden war, und hungern bis zum nächsten Jagderfolg.“ Eine kontinuierliche Ernährung, wie sie durch Ackerbau und Viehzucht weit gehend gesichert war, ließ die Menschen im Laufe der Jahrhunderte größer werden. War ein Mann in der Bandkeramik (4900 bis 4500 vor unserer Zeitrechnung) noch durchschnittlich 165,8 Zentimeter und eine Frau im Schnitt 156,6 Zentimeter groß, so maßen sie im Aunjetitz (2300 bis 1600 vor unserer Zeitrechnung) bereits 170,3 beziehungsweise 160,7 Zentimeter. Tendenz steigend.
Der Knick kam mit der Zeitenwende. Brachten es die Männer in Weimar/Mühlhausen im 5. und 6. Jahrhundert unserer Zeitrechnung noch auf 172,3 Zentimeter, so schrumpfen sie in der Gegend um Wenigenjena im 19. Jahrhundert auf 167 Zentimeter, Ende des 19. Jahrhunderts wurden im Thüringer Wald sogar nur 165,9 Zentimeter gemessen.
Jaeger nennt das Bevölkerungswachstum und damit einhergehend die Herausbildung von Städten als eine mögliche Ursache für die Größen- Reduktion. Denn die hygienischen Bedingungen verschlechterten sich in den neuen Siedlungsformen dramatisch. Seuchen fraßen sich durch die Bevölkerung. Unterernährung, mangelnde Hygiene, kriegsbedingte Entbehrungen und Krankheiten aber beeinflussen bereits beim Fötus die künftige Größenentwicklung.
Den Menschen auf dem Lande ging es besser als ihren Zeitgenossen in den Städten – jedenfalls damals. Weniger Seuchen, bessere Hygiene und eine ausgewogenere Ernährung führten dazu, dass die Landbevölkerung den Städtern über den Kopf wuchs. Selbst die beginnende Mechanisierung und Industrialisierung änderte daran nichts. Denn wieder war es die Stadtbevölkerung, die unter schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen in die Fabriken oder zur Heimarbeit getrieben wurde. Armutsbelastungen machen klein, folgert Jaeger.
Die Wende setzte erst Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Bessere Arbeitsbedingungen und eine Verbesserung der hygienischen und vor allem der medizinischen Versorgung legten laut Jaeger die Basis für einen höheren Lebensstandard. In der Folge wuchs die Bevölkerung in rasantem Tempo. Während ein preußischer Rekrut anno 1894 gerade einmal 166,4 Zentimeter vor das Maßband brachte, so erreichte sein westdeutscher Militärkollege im Jahr 1990 bereits 179,75 Zentimeter. Mehr als dreizehn Zentimeter Größenunterschied in knapp hundert Jahren. Ein Vergleich bei den Frauen: 1914 wurden Frauen im Mittel 158 Zentimeter lang, 1984 waren es 165 Zentimeter.
Die Größenentwicklung der Mädchen beziehungsweise Frauen erlitt im vergangenen Jahrhundert einen Einbruch. Zwischen 1932 und 1944 wurden sie plötzlich um durchschnittlich sechs Millimeter kleiner. Die Suche nach einer Antwort beginnt bei den Müttern. Ihnen ging es während der Schwangerschaft schlechter, als den Frauen im vorausgehenden Jahrzehnt. Krieg und Mangelernährung als Wachstumshemmer. Doch während kleinere Mädchen zur Welt kamen, legten die Jungen auch in dem genannten Zeitabschnitt an Größe um durchschnittlich einen halben Zentimeter zu. Mädchen haben, so Jaeger, stärker auf Vorkriegs- und Kriegsbedingungen reagiert. Wurden Jungen auf Kosten der Mädchen besser ernährt und fanden sie als spätere Kämpfer oder Familienernährer eine größere Anerkennung?
Nicht nur die Körperhöhen veränderten sich im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende. Gleiches gilt für die Kopfmaße. Bei den Jenaer Forschungen wurde festgestellt, dass in den Zeitspannen, in denen die Menschen wuchsen, die Schädelform schmaler, aber auch länger wurde. Man spricht von einer Debrachykephalisation. Dieser Prozess bewirkt gleichzeitig eine Ausweitung des Schädel- und damit auch des Hirnvolumens. In den Zeiten jedoch, in denen sich die Körperhöhen reduzierten, erfolgte eine Brachykephalisation – die Schädel wurden breiter, flacher und damit runder. Gleichzeitig nahm das Schädelvolumen ab. Die Veränderung der Kopfform ist somit ebenso wie die Größenentwicklung der Menschen an den Wandel der Lebensbedingungen gekoppelt.
Jaegers Überlegungen zur Größenentwicklung gehen über die reine Knochenarbeit hinaus: Welche Bedeutung hat die Anzahl der Kinder pro Familie auf die Größenentwicklung? Belegt ist, dass ein erstgeborenes Kind im Durchschnitt größer und häufig auch schwerer ist als die nachfolgenden Geschwister. Die Zahl der Kinder pro Familie variierte gegen Ende des 19. Jahrhundert zwischen 3,5 und fünf. Im Jahr 1999 wurden pro Familie durchschnittlich noch 1,3 Kinder geboren. Es kommen also nur noch die ohnehin größeren Kinder zur Welt.
Uwe Jaeger möchte die Forschungen über sozioökonomischen Faktoren bei der morphologischen Entwicklung der Menschen vorantreiben. Ob er dabei aber auch künftig auf den großen Schatz der Jenaer Schulkinderuntersuchungen zurückgreifen und ihn fortschreiben kann, ist fraglich. Denn obwohl die Teilnahme an diesen Untersuchungen immer freiwillig war, ließen sich von 1880 bis 1989 etwa 99 Prozent der Kinder für die Wissenschaft vermessen. 1995 waren es noch 70 Prozent. Nur noch 40 bis 45 Prozent aller Schulkinder können Jaeger und sein Team jetzt noch von dem Wert der Messungen überzeugen. Desinteresse könnte eine Ursache für die Veweigerung sein. Aber auch Scham: Denn mit der Wende griffen ostdeutsche Kinder rasend schnell westdeutsches Ernährungs- und Freizeitverhalten auf. Zierliche Mädchen und Jungen wurden stark übergewichtig. Jaeger hat beobachtet, dass diese Kinder häufig nicht bei den Untersuchungen erscheinen. Je weniger Kinder sich jedoch vermessen lassen, desto weniger repräsentativ ist die Studie. Mit den Jenaer Schulkinderuntersuchungen würde aber eine Serie verschwinden, die in ihrer Kontinuität und wissenschaftlichen Begleitung einmalig in der Welt ist. Die Wissenschaft wird auf dem Altar der Scham geopfert.
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