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Keine besonderen Auffälligkeiten

Eine junge Türkin wird auf dem S-Bahnhof Schöneweide beleidigt, bedroht, getreten. Von den vielen Fahrgästen greift nur einer ein. Ein Sicherheitsmann soll nur halbherzig eingeschritten sein. Laut S-Bahn GmbH haben sich alle vorbildlich verhalten

von TILMAN STEFFEN

Nachmittags um halb fünf am S-Bahnhof Schöneweide in Treptow. Es ist Hauptverkehrszeit, Bahnen fahren im Dreieinhalb-Minuten-Takt. „Keine besonderen Auffälligkeiten“, dokumentiert der Sicherheitsbericht der S-Bahn für die kommende halbe Stunde.

Doch für Deniz G. war die nächste halbe Stunde dermaßen auffällig, dass sie danach eine Woche nicht mehr zur Arbeit ging. Die 21-jährige Türkin kennt den Weg zum Bahnsteig genau, sie geht diese Strecke fünfmal pro Woche. Deniz macht eine Ausbildung zur Tischlerin, absolviert derzeit ein Praktikum in einer Werkstatt für Möbelrestaurierung in Oberschöneweide. Jetzt will sie nach Kreuzberg zurück, es ist Feierabend.

An der Treppe lungern drei Männer und eine Frau herum, ein Hund ist auch dabei. Deniz macht, wie sie später erzählt, einen Bogen um sie. Doch das hilft nicht. Einer der Männer, ein kräftig gebauter 25-Jähriger mit tätowierten Armen, kommt auf sie zu. „Na, du türkische Schlampe“, sagt er und greift an ihren Rücken. Dem Mann folgen, sagt Deniz, die Frau und zwei weitere Kurzgeschorene in Bomberjacke und schwarzen Stiefeln.

Auf dem Bahnsteig stehen etwa 25 Wartende, die S-Bahn nach Westkreuz fährt ein. Niemand greift ein, klagt Deniz später. Trotz aller Debatten um Zivilcourage, trotz aller Aufforderungen, Gesicht zu zeigen, registriert offenbar auch keiner der Wartenden eine besondere Auffälligkeit. Deniz wird als „Hure“ und „Kanacke“ beschimpft, geschoben, geschubst, gestoßen. Einer der Männer, sagt Deniz, schlägt mit der Faust, tritt mit dem Knie, bedroht sie: „Soll ich dich auf die Gleise schmeißen?“ Die Frau versucht, den Hund auf Deniz zu hetzen.

Die S-Bahn hält. Insgesamt etwa 200 Menschen strömen zwischen Zugtüren und Treppenaufgang hin und her. Vorbei an dem Geschehen.

Auch Ersan O. eilt nach Hause. Der 22-jährige Mechaniker hört, wie er später sagt, Schreie auf dem Bahnsteig, dann sieht er das Handgemenge. Er versucht, den Angreifer aufzuhalten. Er ist der einzige Passant, der eingreift. „Ich habe ihm eine geknallt, da war Ruhe“, sagt Ersan O. Einem Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes vor Ort sei es unmittelbar zuvor nicht gelungen, den Schläger zu stoppen.

Ingo Priegnitz, Sprecher der S-Bahn GmbH Berlin, bescheinigt später allen Beteiligten „vorbildliches Verhalten“. Eine S-Bahn-Aufsichtskraft habe per Funk und parallel der Zugführer per Privathandy die Polizei gerufen. Ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes war zugegen, das Unternehmen observiert im Auftrag der S-Bahn die Bahnhöfe. Der Wachschützer trennte die Kontrahenten, sagt Priegnitz.

Zeuge Ersan O. sieht das anders: Der Wachschützer habe den Weg des geringsten Widerstandes gesucht. Mit den Worten: „Geht mal weg hier“, habe er die Schläger in eine gerade haltende Bahn gedrängt. Ersan O. ging das zu schnell, mit der Notbremse nagelte er den Zug am Bahnsteig fest. So konnten die später eintreffenden Polizisten die Personalien der Angreifer feststellen.

Bahnsprecher Priegnitz bestätigt zwar nur die gezogene Notbremse. Doch selbst falls der Wachschützer so gehandelt habe, hält Priegnitz das nicht für falsch: „Opferschutz“ könne schließlich auch bedeuten, dass man das Gewaltpotenzial vom Ort des Geschehens entfernt.

Die Täter werden nach der Personalienfeststellung laufen gelassen. Die beteiligte Frau gab an, grundlos von Deniz geschlagen worden zu sein. Deniz hat Anzeige wegen Körperverletzung und Beleidigung erstattet. Wenn Ersan nicht eingegriffen hätte, sagt Deniz, „wäre ich auf den Gleisen gelandet“.

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