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Jubel für den Exzaren

betr.: „Bulgarien setzt sich die Krone auf“, taz vom 19. 6. 01

[. . .] Seit 1990 taumelt Bulgarien zwischen einer konservativen oder sozialistischen Regierung hin und her. 1996/97 wurden durch die Brotpreiserhöhungen die Sozialisten gestürzt – dasselbe hätte auch den Demokraten passieren können, denn die Misswirtschaft beruhte nicht auf Unfähigkeit, sondern auf Korruption (es wurde Getreide ins Ausland verschachert). Die Pleite der ehemals staatlichen Balkan-Air ist ein weiteres Trauma und hat das Misstrauen in die Privatisierung vergrößert.

Simeon ist nicht nur der Retter aus dem Ausland, er ist vor allem auch Exilbulgare. Wer kann, verlässt das Land, und Bulgarien verliert zunehmend seine Eliten. Wenn diese aber, gut ausgebildet, zurückkehren, können sie ein wichtiges Regulativ im bulgarischen Sumpf von Wirtschaft und Politik sein, auch weil sie es nicht nötig haben, sich zu bereichern und zu profilieren.

Als Simeon 1996 zum ersten Mal nach der Vertreibung zurückkehrte, konnte ich nicht verstehen, warum alle diesen Exzaren umjubelten. Heute sehe ich, dass er dem Land Selbstbewusstsein und Hoffnung gibt. Trotz ihres Underdog-Daseins sind die nationalistischen Töne in Bulgarien vergleichsweise leise, aber auch hier brodelt es, und die Integrationskraft Simeons scheint mir ein wichtiger Faktor zu sein. Er war auch der Wunschkandidat der bulgarischen Roma, was jedem anderen Politiker den Hals gebrochen hätte, denn der „Ton“ wird schärfer, aber nur unter der Hand, denn die EU verlangt ja die Integration von Minderheiten.

Ich will die Wahl Simeons nicht verklären, die Hoffnungen sind maßlos überzogen, und er hat zu viel versprochen, aber ich sehe auch, wie Bulgarien aus seiner Agonie gerissen wird und einen neuen Anlauf nimmt. KARIN WULLENWEBER, Frankfurt

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