: Entführung aus der Wasserburg
Kulturpolitik der Anerkennung: Zum Neustart präsentierte das Bochumer Kemnade-Festival ein orientalisches Stil-Mosaik – eine Premiere mit türkischem Pop-Glamour, Elektronik-Breakbeats alla turca und den Stars der Neo-Folk-Szene aus Istanbul
von DANIEL BAX
Es war nicht das erste Mal. Aber es war doch eine Art Premiere. Mit dramatischer Gestik ruft die Sängerin von der Bühne, die Hand ausgestreckt. Fast automatisch schließen sich kleine Grüppchen des durchweg jungen und modischen Publikums zum Kreis zusammen, zur Tanzformation. Vorne, am Kopfende, wedelt jemand mit dem Taschentuch, und der Rest der Kolonne hüpft im Takt. Und so, für einige Momente, wird der Innenhof der Wasserburg am Kemnader See bei Bochum zur Kulisse für ein altes anatolisches Ritual – zelebriert allerdings von der Generation Tarkan.
Die Gruppe auf der Bühne nennt sich Kardes Türküler, und sie sind die derzeitigen Shootingstars der Neo-Folk-Szene in der Türkei. Das Ensemble poliert behutsam jene Schätze auf, die Anatolien reichlich birgt: kurdische, alevitische und armenische Melodien sowie die Rhythmen von der Ägäis oder vom Schwarzen Meer – kurz, die Volksmusik der Türkei, die man in Ankara und Istanbul am Konservatorium studieren kann und deren Ausstrahlungskraft noch immer so stark ist, dass sie die türkische Rock- und Popmusik von heute gleichermaßen befruchtet hat.
Kardes Türküler beziehen sich konsequent auf diese Roots und finden damit großen Anklang – vor allem bei einem städtischen, studentischen Publikum. Seit die Gruppe den Soundtrack zum türkischen Erfolgsfilm „Vizontele“ beisteuerte, zählt sie auch zu den Bestsellern. Ihr Ruf hat sich, zumindest unter den Freunden türkischer Musik, auch in Deutschland längst verbreitet: Eigens aus Berlin waren ein paar verwegene Verehrer angereist, nur um sie zu sehen. Doch der Auftakt gestaltete sich schwierig. Als sie am Eröffnungsabend schon längst hätten spielen sollen, waren Kardes Türküler auf der Bühne noch immer mit dem Soundcheck beschäftigt.
„Sie hatten keine Instrumentenkabel dabei“, wundert sich Francis Gay, einer der Veranstalter des Festivals. So konnte die Gruppe ihre Instrumente zunächst nicht an den Verstärker anschließen. Ein Anfängerfehler. Aber die Anschlussschwierigkeiten sind symptomatisch. Kardes Türküler, deren Karrierebeginn gerade mal zwei, drei Jahre zurück reicht, sind zwar schon mal in Deutschland aufgetreten. Aber auf einem deutschen Festival, vor einem so gemischten Publikum aus Deutschen und Deutschtürken, haben sie noch nie gespielt.
Da geht es ihnen nicht anders als den meisten ihrer Kollegen aus der Türkei. Denn obwohl fremde und exotische Klänge unter dem Sammelbegriff Weltmusik immer gefragter sind, allerorten kunterbunte Festivals aus dem Boden schießen und etablierte Jazzfestivals ihr angegrautes Programm damit aufmöbeln, ist türkische Musik bisher noch kein Teil dieses Trends geworden.
Zum einen liegt das sicher an der Musik selbst, die für westliche Ohren weniger vertraut klingt als, sagen wir einmal, kubanische Musik. Aber auch daran, dass sie in einer Art Parallelökonomie, am deutschen Musikmarkt vorbei, zirkuliert. Türkischen Pop findet man selten im herkömmlichen Plattenladen, neben deutschen und anderen Interpreten. Türkischen Pop findet man, separiert, in den türkischen Kassetten- und Gemischtwarenläden, wie es sie in jeder größeren deutschen Stadt gibt.
Das Gleiche gilt für türkische Konzerte: Sie finden kaum über Insiderkreise hinaus Gehör. Selbst wenn ein Star aus der Türkei gerade in einer deutschen Stadt gastiert, bekommen es die meisten Deutschen kaum mit. Ein Grund dafür ist die Selbstgenügsamkeit – oder auch die mangelnde Professionalität – der Konzertveranstalter, die sich gerne auf Mundpropaganda in der Szene verlassen. Selbst die Gastspiele großer Namen aus der Türkei werden oft von Leuten organisiert, die wenig Erfahrung im Konzertgeschäft haben – von türkischen Kleinunternehmern oder Gastronomen, die sich einmal ihren Lebenstraum erfüllen und ihren Lieblingsstar nach Deutschland holen. Auszahlen tut sich das nur selten. Am Ende bleibt dem Veranstalter oft ein finanzielles Fiasko – und ein Foto mit dem Star samt persönlicher Widmung.
Der Schieflage zwischen deutscher und türkischer Musikszene zu begegnen hat sich das Kemnade-Festival vorgenommen. Bis zu diesem Jahr war die Bochumer Kemnade ein Polit-Fest mit folkloristischem Rahmenprogramm – sympathisch, aber musikalisch wenig bedeutsam. Nun, fast dreißig Jahre nach der Gründung, wurde es renoviert und die Musik zum Schwerpunkt ausgebaut. Auch eine Art Premiere also.
20.000 Besucher pilgerten an den drei Tagen zur Wasserburg, um über 50 Gruppen zu sehen – von den Lokalmatadoren der Kölner Schäl-Sick-Blaskapelle, die zur Eröffnung mit großem Spektakel die Burg erstürmte, über bekannte Namen aus dem Weltmusik-Kosmos wie Natacha Atlas bis hin zu innovativen DJ-Produzenten wie Smadj oder Oojami. Hinter Letzterem steckt Necmi Cavli, ein in London lebender Türke, der am Computer Breakbeats alla turca komponiert. Mit Maus und Laptop bewaffnet und mit Live-Musikern verstärkt, verwandelte er mit seinen elektronischen Trance-Rhythmen die Scheune der Wasserburg zum Club, zur „Global Dance Hall“. Dort tanzte die Kopftuch-Muslimin dann neben dem Goa-Raver – ein Bild, wie man es von den Multikulti-Raves in London oder Paris kennt, aber für Deutschland doch sehr ungewöhnlich.
Zuvor hatte Askin Nur Yengi für das nötige Quentchen Glamour gesorgt. Als eine der populärsten Popsängerinnen der Türkei war sie, zumindest für das türkische Publikum, der Headliner des Festivals. Und dieses Publikum hatte die einstige Background-Stimme der türkischen Pop-Matriarchin Sezen Aksu, im dunkel glitzernden Abendkleid herausgeputzt wie für einen Silvesterball, von der ersten Minute an im Griff. Professionell flirtete sie mit ihren Fans, die den Burghof füllten: ein Heimspiel in der Diaspora. Englische Ansagen und ein „Danke schön“ waren die einzigen Konzessionen an die deutschen Zuhörer. Doch der Funke sprang trotzdem über: Alles schwelgte in Wunderkerzenträumen, und selbst die Polizei wippte mit.
Die Songs von Askin Nur Yengi sind reiner Pop und haben doch einen typisch orientalischen Anstrich. Das letzte Drittel ihres Programms bestrittt sie allerdings mit Hits bekannter Kollegen wie Sezen Aksu oder Kayahan. Am nächsten Tag, in den zur Künstlergarderobe umdekorierten Ställen der Zitadelle, erklärte die Sängerin, nun im legeren Sporttrikot, warum: Die Titel hatten sich die Zuhörer gewünscht und ihr während des Konzerts auf Zetteln zugereicht.
Askin Nur Yengi ist es gewohnt, als Repräsentantin türkischer Popmusik im Ausland aufzutreten. Kürzlich war sie in New York, wo 700.000 Türken leben, der Stargast einer Parade. Und erst fünf Tage zuvor hatte sie einen Auftritt beim türkischen Unternehmerverband in Düsseldorf. Schon im Herbst will sie wieder nach Deutschland auf Tour kommen. Doch das Festival in Bochum hält sie für etwas Besonderes, weil es über die üblichen Kreise hinaus ausstrahlt: „Ich wünschte, wir hätten ein solches Festival auch bei uns, in der Türkei – auch, um die Vielfalt der türkischen Kulturen zu präsentieren, als Teil der Weltkultur.“
Tatsächlich hat das Bochumer Festival in vielen Aspekten Vorbildcharakter. Durch die Einbeziehung lokaler Vereine wurde an die Traditionslinien angeknüpft, durch das unkonventionelle Programm aber das Ereignis neu besetzt, und trotz der Konzentration auf das Thema „Orient“ jegliche Türktümelei vermieden – dafür sorgten allein schon Künstler wie das marokkanische Gnawa-Ensemble, bei deren Performance das Festival-Zelt aus allen Nähten platzte, oder der in Athen lebende Armenier Haig Yazdjian. 50 CDs hatte er mitgebracht, die ihm nach seinem Auftritt praktisch aus der Hand gerissen wurden.
So heterogen wie das Programm war auch das Gesamtbild: Auf der Wiese blätterten Teenies in der Bravo oder ließen sich Henna-Tattoos auf den Bauch malen, während ein islamischer Bildungsverein den Koran auf CD-ROM verschenkte. Der „Atatürk-Gedenkverein“ verkaufte Apfelkuchen und Käse-Böreks, und schräg gegenüber bot der Kurdenverband Komkar Döner und Raki-Schnaps an. Für die Festivaltradition stand auch Hüsnü Isik aus Bochum auf der Bühne – ein Veteran der ersten Stunde, der Volksmusik-Standards zum Besten gab, wie man es von unzähligen Heimatabenden türkischer Vereine kennt, mit blecherner Keyboardbegleitung und mit viel Hall unterlegt. Das war zwar musikalisch wenig originell. Aber es hatte so etwas beruhigend Sozialdemokratisches, wie es Dixieland-Kapellen auf SPD-Festen an sich haben.
Der Etat der Kemnade hat viele Väter. Die Stadt Bochum, Hattingen und Witten trug die Hälfte der Summe, der WDR mit seinem „Funkhaus Europa“ stärkte den Rücken, Sponsoren dämpften die Flugkosten. Auch der DGB half nach Kräften: Er druckte T-Shirts mit dem Festival-Slogan „Orient Inside“ und ermöglichte auch eine Fachkonferenz zum „türkisch-deutschen Kulturtransfer“, die im Rittersaal der Burg tagte.
Da herrscht hierzulande noch erheblicher Gesprächsbedarf. Denn anders als etwa im Nachbarland Frankreich, wo afrikanische oder algerische Musiker ganz selbstverständlich öffentliche Förderung erfahren, fallen hier die eingewanderten Künste durchs starre Raster staatlicher Stellen. Dass Deutschland ein Einwanderungsland sei, ist gerade im Ruhrgebiet, dessen Städten die Überalterung droht, neuerdings ein oft gehörtes Lippenbekenntnis. Konsequenzen für die Kulturpolitik in der Region hat man daraus aber noch keine gezogen: Lieber investiert man 40 Millionen Mark in das ambitionierte Prestigeprojekt einer Ruhr-Triennale und lässt dafür den Leiter der Salzburger Festspiele, Gérard Mortier, ins Revier kommen, als sich Gedanken darüber zu machen, welche Formen subventionierter Kultur vielleicht weniger ehrgeizig, dafür aber zeitgemäßer sein könnten. Migrantenkultur dagegen ist und bleibt ein Stiefkind deutscher Kulturpolitik: Sie wird allenfalls als Sozialfall betrachtet, „um die Jugendlichen von der Straße zu holen“ – nicht aber als förderungswürdige Kunst.
Ein Umdenken ist nicht in Sicht. Der Vertreter des NRW-Kulturministeriums sorgte bei der Tagung in Bochum fast für einen Eklat, als er sich schlicht für nicht zuständig erklärte: Türkische Kultur zu finanzieren sei Sache der Türkei. Hätte man in Frankreich früher ähnlich gedacht, dann würde man dort heute kaum mit Rai-Musik die Außenhandelsbilanz und das eigene Image in der Welt aufpolieren.
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