Substantive, Substantive!

Jürgen Habermas enttäuschte in der Hamburger Universität mit seinem Vortrag „Ist die Europäische Union reif für eine Verfassung?“ Nicht nur Europa, auch seine Rede erwies sich als blasse Abstraktion

Einen Aktor oder Akteur oder zumindest Autor wollte man an diesem Abend hören, doch man hörte nur von diesem Wunsch

von REINHARD KAHL

„Ach Europa!“, seufzte vor Jahren Hans Magnus Enzensberger und legte ein Spektrum inspirierender Miniaturen vor. Jürgen Habermas setzte Dienstagabend hinter Europa ein kräftiges Ausrufezeichen. Dass er damit sein Publikum anregte, kann man allerdings nicht sagen. Dabei strömten mehr als 1.000 Menschen am ersten lauen Sommerabend in die Hamburger Universität, zu den seit zwei Jahren institutionalisierten Hamburg Lectures.

Dieses Publikum anzuschauen war eine Freude. Mixed Generation. Erstsemester mit großen Augen und interessierte Greise, evangelische Bischöfin und katholischer Weihbischof miteinander, Feuilletonchefs und ein in Philosophie promovierter Taxifahrer, manche, die sonst nur zu Veranstaltungen gehen, wenn sie selbst auftreten, und viel interessierte Bürgersleut: Die Zivilgesellschaft, die viel zitierte, kam, um einen ihrer Mentoren zu hören.

„Warum braucht Europa eine Verfassung?“ Wie er mit dem Vorlesen begann, wurde es leise im Saal. Habermas argumentierte, dass das Projekt Europa sich nicht mehr aus den Motiven der Nachkriegszeit aufrichten könne. Verhinderung von Krieg durch Überwindung der Nationalstaaten, von Verneinungen, die die Generation Adenauer bis hin zur Generation Kohl angetrieben hatten, gehe keine Kraft mehr aus. Der Markt sei tatsächlich ein gemeinsamer, aber ökonomische Argumente „zählen für einen weiteren Ausbau der EU nur im Kontext einer über die wirtschaftliche Dimension weit hinausgehenden kulturellen Anziehungskraft“.

Worin könnte diese bestehen? Langsam wird es unruhig im Saal, Habermas doziert über Modernisierungsgewinner und Modernisierungsverlierer, hundertmal gehörte Sätze leitartiklerischer Weltrezensionen, die ersten gehen, klapp, klapp, der Uni-Sound von Hörsaaltischen und -sitzen. Aber die meisten hören weiter zu. Habermas ist inzwischen zum heutigen, wie er es nennt, „politischen Projekt“ gekommen. Er moniert, ein Europa als super- oder supranationales System reiche nicht, es solle transnational sein – aber der Unterschied zwischen international, supranational und transnational entzieht sich dem Auditorium. Und was soll man sich unter gegenseitigen Penetrationen der Kulturen vorstellen?

„Worte, Worte – Substantive“, mit diesem Gottfried-Bennschen Verdikt leitete kürzlich Habermas’ Kollege, der Soziologe Ulrich Beck, einen Essay über die Zivilgesellschaft ein, wohl spürend, dass politische Theorie erst mal Beschreibungen, ja Erzählungen braucht, die uns Alltag und Strukturen erklären. Aber es geht weiter mit oft nur von schwachen Verben verbundenen Substantiven: „Die Diskrepanz zwischen der fortgeschrittenen ökonomischen und der hinterherhinkenden politischen Integration könnte durch eine Politik überwunden werden, die auf die Konstruktion höherstufiger politischer Handlungsfähigkeiten abzielt, weil sie mit den deregulierten Märkten Schritt halten will.“ Habermas pocht auf eine europäische Öffentlichkeit, nicht nur die der Financial Times-Leser. Sie sei auf „die vitalen Eingaben zivilgesellschaftlicher Aktoren“ – so hieß es – angewiesen. Einen Aktor oder Akteur oder zumindest Autor wollte man an diesem Abend hören, doch man hörte nur, dass man solche hören müsste. Weitergeht der Exodus im Saal, eine deprimierende Abstimmung.

Dann kommt vom Politikwissenschaftler Tomas Greven die Hamburger Replik, so heißt der zweite Akt im Ritual der Hamburg Lectures. Greven ist konkreter, schärfer, und noch ratloser, was Europa betrifft. Er beobachte als Gutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft, wie immer mehr politische Theorien zurechtgelogen würden. Damit meinte er nicht Habermas, aber doch die Agonie eines begriffsimperialistischen Sprechens, das die Wirklichkeit kaum mehr zu fassen vermag. Kein Wunder, dass in der anschließenden Diskussion einige peinliche Verschwörungsneurotiker zum Beispiel mit Reden über den ständig stattfindenden Einsatz der Neutronenbombe, deren Opfer auch Lady Diana geworden sei, die Szene beherrschten.

Ein paar vernünftige Worte noch vom bündnisgrünen Senator Wilfried Maier, der mit dem habermasschen Appell für eine politische Mobilisierung pro Europa nichts anfangen konnte, die einzige europäische Bewegung auf der Straße, siehe Göteborg, sei ja eher Protestfolklore, die ohne jede Sprache demonstriere: „Wir wollen das alles nicht.“ Zum Schluss werden im Foyer des Audimax Wein und Orangensaft gereicht. Die Getränke reichen, weil die Meisten, vor allem die Jüngeren, schon weg sind.

Ach Europa! Aber so schwach ist es auch wieder nicht. Beim Wein erzählt ein Physiker, eine der Koryphäen vom Desy, von seinem europäischen Alltag – es sei heute egal, ob man sich in Stockholm oder Amsterdam treffe, und wenn es nach Amsterdam gehe, fliege er nicht, sondern fahre mit dem Nachtzug. Da erfreue er sich an der international gemischten Jugendszene auf dem Weg nach Holland. Da wachse doch was! Ja, aber den Theoretikern fehlt angesichts dieser Unübersichtlichkeit die Sprache. Und da hatten wir doch so auf eine zündende Rede von Jürgen Habermas gehofft.