: Die Banalität des Alltags
Die Volksarmee erobert Portugal: 1970 sollten sich auf einem Bankett zu Lenins Geburtstag die Gäste den Sieg des Sozialismus im Jahr 2000 ausmalen. Vier Teilnehmer erinnern sich in dem Dokumentarfilm „Das Bankett“
„What will you do in the year 2000?“, fragte Jarvis Cocker von Pulp seine Hörer erst 1995. Die junge Welt, eine nicht ganz unbedeutende Zeitung der DDR, stellte diese Frage ihren jungen Lesern schon 1970. Und so gingen im August dieses Jahres, neun Jahre nach dem Bau des Antifa-Schutzwalls, Briefe an die Abonnenten mit einer Einladung zu einem Bankett am 8. 1. 2000, dem 130. Geburtstag eines gewissen Lenin. Die Leser wurden gebeten, ihre Träume und Fantasien für das Jahr 2000 einfach mal aufzuschreiben.
Irgendwie liest sich die Einladung der jungen Welt fast schon wieder wie ein Stasimitarbeiterkontrakt: „Wir gestatten uns hiermit, Dich als einen engeren Mitarbeiter zu betrachten. Wir werden Dich eventuell zu diesem oder jenem Problem um Deine Meinung bitten. In der Hoffnung auf gute, mindestens 30jährige Zusammenarbeit . . .“
Von den 500 zum Lenin-Bankett 2000 Eingeladenen haben die Filmemacher Holger Jancke und Olaf Jacobs vier ausfindig gemacht. Die dürfen nun, als Endvierziger, ihre Träume von vor 30 Jahren vor der Kamera verlesen. Das muss ungefähr so erschreckend sein, wie nette Jugendfotos von sich zu betrachten. Vor allem, wenn das komplette Bezugssystem der Utopien vor einigen Jahren weggefegt worden ist wie Geschichtsmüll.
Und so sehen wir gleich bei mehreren die Tränen kullern. Einer liest erstaunt, wie er sich einen Krieg der „Vereinigten Kommunistischen Parteien von Europa“ gegen den imperialistischen Feind von der 4. US-Armee ausmalt. Einen superfortschrittlichen Flammenwerfer richten er und seine Kampfesbrüder in Portugal auf die Imperialisten. Heute leitet Joachim G. die Datenverarbeitung eines Bauunternehmens.
Irgendwie hatte er sich einen Tag im Jahr 2000 ein wenig anders vorgestellt: „Der Lebensstandard der Bevölkerung der sozialistischen Staaten stieg derart, dass die fortschrittlichen Werktätigen Westeuropas die Vorzüge der sozialistischen Gesellschaften klar erkannten. Bereits 1991 siegt in Westdeutschland die sozialistische Revolution, darauf in Großbritannien und Frankreich.“
Die Durchgeknalltheit seiner kriegerischen Fantasien befremdet ihn selbst, aber ich dachte auch immer, der Sozialismus kann nur mit Waffengewalt siegen: „Am 13. Oktober überschritten unsere Truppen den Douro. In erbitterten Gefechten rangen wir zur Jahreswende 1999/2000 um Lissabon.“ Ein klarer Fall für ein langes Therapieinterview mit Alexander Kluge, dieser Mann. „Wahnsinn, 30 Jahre.“
Ein anderer DDR-Bürger träumt von Rohrpost und einem Staudamm, der endlich das Klima in Sibirien ein wenig freundlicher gestaltet (hatte der etwa Angst?). Heute ist er Besitzer einer kleinen Thai-Restaurant-Kette in Berlin. Vorher ging er nach Japan, da aber wollte man ihm schon wieder Reisen nur mit Genehmigung erlauben. Die meisten DDR-Träume scheinen denen von BRDlern gar nicht so unähnlich, weil sie vor allem von hochtechnisierten Welten mit Luftkissenzügen vom Ostbahnhof nach Stralsund in 50 Minuten träumen.
Der Film ist als TV-Doku angelegt, und er vermittelt eine etwas eigentümliche Atmosphäre von Melancholie und Traurigkeit. Vielleicht haben die Filmemacher ein wenig zu viel (eigene?) Wehmut über den Verlust einer utopischen Perspektive in ihre Kamerarecherche gelegt. Sie begleiten ihre Protagonisten an einem ganz normalen Arbeitstag des Jahres 2000. Eine etwas unmelancholischere Art hätte vielleicht mehr über den Übergang des Menschen vom Sozialismus zur „freien Marktwirtschaft“ ausgedrückt. Aber in der Banalität des Alltags und der Arbeit als Molekularbiologe (Jörg H.’s Traum wurde als einziger wahr) liegt auch eine existenzielle Wahrheit.
Ziemlich strange auch die Vorstellung, sich heute zu überlegen, was in 30 Jahren sein könnte. So lang gelten ja nicht mal der Solidarpakt Ost, der Länderfinanzausgleich oder der Höhenflug von Union Berlin. Das Bankett hat übrigens tatsächlich mit 227 Leuten stattgefunden. Leider ohne Kamera. ANDREAS BECKER
„Das Bankett“. Deutschland 2000. Die Vorführung mit Filmemachern und Protagonisten findet am 30. Juni um 20 Uhr im Kino Balázs statt. Karl-Liebknecht-Str. 9, Mitte
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