: Das Zeitalter der Auflösung
Eine kleine Streitschrift für die Ablösung des philosophischen Diskurses der Aufklärung
Martin Lammert weiß, dass die Menschheit in ihrer jetzigen Daseinsform nicht überleben, sondern sich irgendwann irgendwie auflösen wird. Ich habe mir seine im Auflösen begriffenen Körper und seine dem Auflösen dienenden Gefäße angesehen, in der Kampnagelfabrik in Hamburg-Winterhude. Meinen Senf möchte ich nicht zu seinen Torsen, Herzen, Arterien, Aorten, Föten und Wannen geben, nur so viel sei gefordert: Tut es mir gleich, liebe Leser, besucht seine großartige Ausstellung.
Denn Auflösung ist das philosophische Thema der Zukunft. Der Mensch des Dritten Jahrtausends trachtet nicht mehr nach Aufklärung, sondern nach Auflösung, der philosophische Diskurs der Auflösung wird den der Aufklärung ab- und schließlich auflösen. Und das ist gut so, denn Auflösung ist nicht Vernichtung, sondern Veränderung des Aggregatzustandes hin zur Erlösung.
Der Diskurs der Auflösung ist nicht neu; schon seit zwei Jahrtausenden wird über Auflösung nachgedacht, über die Auflösung der abendländischen Kultur in der Dekadenz, der christlichen Moral, der Solidarität der Arbeiterbewegung, des Mannschaftsgefüges des VfL Bochum, des Begriffs im musikalischen Bild oder des Tons im Klang. Dies war ein Diskurs der Auflösung im Diskurs der Aufklärung, ein Anhängsel. Der neue Diskurs der Auflösung aber hat sich emanzipiert von der Aufklärung, weil er es ernst meint. Ihm geht es um echte, materielle Auflösung, Auflösung des Hirns in Essigsäure, der Eingeweiden in Lauge, des Muskelfleisches in Aspik.
Die große Wende in der Fortschrittsgeschichte hat längst stattgefunden, die Wende von der Gigantomanie zur Minimalomanie, ihr muss nun die Wende im Denken folgen, vom aufgeklärten zum auflösenden Denken.
Materie ist Last, und das Ziel des neuen Fortschrittes ist es, Last zu minimieren und schließlich verschwinden zu lassen. Die Technologie des neuen Jahrtausends kennt nur eine Richtung und nur ein Ziel: Materie überflüssig zu machen, Stoffe aufzulösen zugunsten stoffloser Information, stofflosen Bildern, stofflosem Vergnügen. Am Ende dieses Prozesses steht die Auflösung aller Materie, einschließlich des menschlichen Körpers.
Wie jeder Fortschritt wird auch derjenige hin zur Auflösung erbittert bekämpft. Wie die Gegenaufklärer einst blind vor Angst vor dem Verlust ihrer Macht gegen die Aufklärung wüteten, so wüten nun die Gegenauflöser.
Fitness, Wellness, Bodybuilding – das sind die Rückzugsgefechte eines anachronistischen Körperkultes, das ist der lächerliche Aktionismus einer atavistischen Körperlichkeit, die ihr evolutionäres Rentenalter inzwischen längst erreicht hat.
Der aufgelöste Zustand wird der ideale Zustand des menschlichen Körpers sein, denn wer aufgelöst ist, spürt keine Müdigkeit, keine Schmerzen, keinen Hunger, kein Jucken zwischen den Zehen und kein Beißen im Schritt. Und nie mehr muss er unter dem notorisch unerfüllten Versprechen einer erfüllten Sexualität leiden. In diesem Sinne ist Auflösung Erlösung, eine Erlösung, nach der der Mensch insgeheim seit jeher strebt. Was anders ist die Mimesis als das Einswerden mit der Umgebung in vollkommener Harmonie – Auflösung also? Was anderes ist Meditation als die Illusion der Auflösung des Körpers? Was ist das Nirwana anderes als der endgültig aufgelöste Zustand, der keine Not, keine Angst, keinen Stress, kein Blasendrücken, keine Hautirritationen und keine Orangenhaut mehr kennt?
Man erzählt sich, Menschen unter Einfluss halluzinogener Drogen wünschten sich nichts mehr als die Auflösung ihrer Körper, weil nur dieser Klumpen aus Fleisch, Blut, Kalk, Innereien, Kohlenstoff und Wasser ihre Euphorie noch bremse. Erst die Auflösung des Fleisches ermöglicht, die Grenzen der Erfahrung, der Lust, der Erkenntnis und des Erlebens zu überschreiten. Die physikalischen, technischen und chemischen Voraussetzungen für diese Grenzüberschreitung wurden im vergangenen Jahrhundert geschaffen, das neue wird die Menschheit zu dieser Erfahrung führen.
Soweit die Gedanken eines Aufgeklärten zur Auflösung. Noch während Sie diesen Satz lesen, wird sich dieser Artikel vor Ihren Augen auflösen – sofern Sie während des Lesens eine Flasche Gin schlucken, aufgelöst in Soda, ein Vorgeschmack auf den Diskurs der Auflösung.
JOACHIM FRISCH
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